Über das Milchige in Heinrich Bölls Kurzgeschichte Wanderer, kommst du nach Spa…

! Dies ist ein alter Text! Was heißt das?

›Milch‹, sagte ich leise …, lautet der letzte Satz in Bölls Kurzgeschichte Wanderer, kommst du nach Spa… Ausgehend von der symbolischen Valenz der Chiffre Milch wird eine Deutung der Geschichte und ihrer zentralen Symbole entwickelt.

Von


Milchig: Das ist unklar, verschwommen. Es trübt, lässt das hinter ihm Liegende nicht klar erkennen, überlagert es mit einem Schleier, man ahnt nur, was es verdeckt. Ebenso überlagert ist das Gedächtnis des totwunden Protagonisten in Bölls Kurzgeschichte Wanderer, kommst du nach Spa… Die Erinnerung an sein früheres Leben liegt verborgen hinter dem nur halbdurchlässigen Schleier einer Gesellschaftsordnung, die einerseits aus der Tradition entstand und sie andererseits – nämlich dort, wo sie ihr nicht mehr passte – zu verdrängen versuchte. Somit erweist sich seine verlorene Erinnerung nicht nur als persönlicher, sondern auch gesellschaftlicher Verlust. Hier, in der Gesellschaft, bleiben allein die allmählich verbleichenden Spuren einer humanistisch-christlichen Tradition und dort, im Ich, die Erinnerungssplitter einer Zeit übrig, die im Jetzt in Trümmern liegt. Aus dem Erlebnis dieser zersetzenden Erfahrung baute Böll seine Erzählung, ihre Spuren finden sich, in Symbolen verdichtet, überall, wie ich im Folgenden zeigen möchte.

Die jungen Nachkriegs­literaten in Deutschland

Die Kurzgeschichte ist das Genre, welches dem Lebensgefühl der Autoren des frühren Nachkriegsdeutschland wie kein anderes angemessen war. Literarisch und intellektuell war das Land infolge der Nazi-Diktatur gleichsam ausgeblutet. Viele der größten Dichter waren ins Exil gegangen und konnten sich, wie z. B. Thomas Mann, nur noch an gewissen Feiertagen zu einer kurzfristigen Rückkehr entschließen. Die großen Alten waren nicht nur weit entfernt, sie waren den Zurückgebliebenen auch fremd geworden. Sie teilten mit ihnen oftmals nicht die Erinnerung an den Terror des Krieges, sie hatten keine Vorstellung davon, was alles im Laufe der Kriegsjahre in deren Bewusstsein zerschlagen worden war. Ist die Exilerfahrung auch in aller Regel keine rosige gewesen, so lässt sich, denke ich, auf jeden Fall konstatieren, dass sich die Erfahrungen der Exilanten von denen der Zurückgebliebenen signifikant unterschieden. Man fühlte anders zwischen den Trümmern. Das wohl beredtste Beispiel für diese Differenz findet sich in den poetologischen Äußerungen von Wolfgang Borcherts Das ist unser Manifest:

Wer schreibt für uns eine neue Harmonielehre? Wir brauchen keine wohltemperierten Klaviere mehr. Wir selbst sind zuviel Dissonanz.
Wer macht für uns ein lilanes Geschrei? Eine lilane Erlösung? Wir brauchen keine Stilleben mehr. Unser Leben ist laut.
Wir brauchen keine Dichter mit guter Grammatik. Zu guter Grammatik fehlt uns die Geduld. Wir brauchen die mit dem heißen heiser geschluchzten Gefühl. Die zu Baum Baum und zu Weib Weib sagen und ja sagen und nein sagen: laut und deutlich und dreifach und ohne Konjunktiv.

Hier wird der Bruch zum Programm. Das Alte ist nicht mehr greifbar, bestenfalls unangemessen einer Wirklichkeit, die sich fundamental verändert hat. Die Metapher des lilanen Geschreis, der lilane[n] Erlösung steht zeichenhaft für die Unsagbarkeit des Erlebten mit Hilfe der tradierten Ausdrucksformen. Die barocke Zaubersprache eines Thomas Mann muss den Nachkriegsliteraten unzugänglich bleiben. Denn sie wollen es, sie müssen es unumwunden sagen, was sie berührt: Zu guter Grammatik fehlt uns die Geduld, die Zeit zerfließt wie ein Ensemble Dalí’scher Uhren. Zuflucht bietet allein die Geradlinigkeit eines realistischen, schnörkellosen Stils.

Der offenbare Bruch in der literarischen Tradition wurde also mit einer veränderten Erzählhaltung beantwortet. Autoren wie Borchert oder Böll bevorzugten zunächst eine knappe, realistische Prosaform für ihre Werke. Ferner floh man nicht vor der unmittelbar zurückliegenden Vergangenheit, man versuchte nicht, sie durch das Beschwören vergangener Zeiten zu verarbeiten. Vielmehr wühlten sich die Kurzgeschichten der Nachkriegszeit gleichsam selbstquälerisch durch die unmittelbar fassbare Wirklichkeit, dabei keineswegs beschönigend. Hinter dieser vermeintlichen Oberflächlichkeit des blitzenden Realismus verbirgt sich nämlich oftmals eine wohldurchdachte Symbollandschaft, ebenso wie hinter der oft unpathetischen Schreibweise eine tief empfundene Emotionalität zu finden ist. Dabei werden immer nur Ausschnitte präsentiert, die gleichsam die Wirklichkeitsdefekte widerspiegeln. Die romanhafte Gesamtschau scheint nicht im Bereich des Möglichen zu liegen, die abgeschlossene, auch äußerlich wohlgeformte Komposition passt nicht zu einer Zeit, die sich im Fluss befindet.

Die aus einer solchen inneren Erregung heraus entstandenen Kurzgeschichten, das möchte ich festhalten, erstarrten also keineswegs in einer positivistischen Darstellung der Weltwirklichkeit, einer eindimensionalen Sicht auf das akute Sein. Vielmehr versuchten die Autoren mit der symbolhaften Aufladung des Dargestellten zu erhellen, was allein durch eine wirklichkeitsgetreue Darstellung nicht in Sprache gefasst werden konnte. Das Wahrnehmen und Darstellen der Gegenwart war Böll ebenso wie Borchert von besonderer Wichtigkeit, ja nachgerade das Fundament, auf dem er als Autor ruhte:

[…] man schien uns zwar nicht verantwortlich zu machen dafür, daß Krieg gewesen, daß alles in Trümmern lag, nur nahm man uns offenbar übel, daß wir es gesehen hatten und sahen, aber wir hatten keine Binde vor den Augen und sahen es: ein gutes Auge gehört zum Handwerkszeug des Schriftstellers,

schreibt Böll in seinem Bekenntnis zur Trümmerliteratur. Der Schriftsteller, so Böll weiter, müsse nicht nur sehen, was faktisch ist, sondern bedürfe eines Auges, gut genug, ihn auch Dinge sehen zu lassen, die in seinem optischen Bereich noch nicht aufgetaucht sind. Böll nennt den Begriff nicht ausdrücklich – seine Äußerung scheint aber auf das literarische Symbol zu verweisen, das Dinge zu zeigen vermag, die dem Betrachter optisch-physiologisch nicht sichtbar sind. Der Dichter mit seiner feineren Wahrnehmung jedoch hat sie gespürt. Er versucht, dem Gefühl von ihnen Gestalt zu geben. Und von diesen Gestalten wimmelt die hier besprochene Erzählung.

Das Kreuzsymbol

Christliche Symbole sind in Bölls Œuvre immer zentral, da er ein zutiefst gläubiger Katholik war und seine Erzählwelten immer wieder aus der Sicht seines persönlichen Glaubens gestaltete. In Wanderer, kommst du nach Spa… allerdings hat die Kreuzsymbolik eine größere Reichweite, als einfach nur für die Unterdrückung der Christen während der nationalsozialistischen Diktator zu stehen. Denn die Philosophie des Nationalsozialismus hatte im Sinne Hitlers nicht nur das Fundament des Antisemitismus. In gleichem Maße war sie antichristlich: Jesus sei Arier gewesen, Paulus ein mit dem Virus des Bolschewismus infizierter Jude, der die christlichen Urlehren verdorben habe.1 Hitler, als gewiefter Taktiker, als der er sich in politischer Hinsicht bedauerlicherweise des Öfteren erwies, hatte diese aus heutiger Sicht schon fast ins Humoristische changierende Seite seines abstrusen Denkens nicht allzu vehement nach außen gekehrt – wohl wissend, dass es ihm die Zustimmung der deutschen Bevölkerung gekostet hätte.

Das Kreuzsymbol geht über diesen Umstand hinaus. Denn das Entfernen des vormals im Zeichensaal hängenden Kreuzes symbolisiert in Wanderer, kommst du nach Spa… meiner Ansicht nach nicht nur die Ausgrenzung der Christen im Nationalsozialismus. Vielmehr spielt der Erzähler auf den nationalsozialistischen Versuch an, eine durchgreifende Änderung im gesamten tradierten Wertegerüst vorzunehmen. Gestützt wird diese Meinung durch den Umstand, dass am Anfang der Geschichte zahlreiche klassische Werke der Antike heraufbeschworen werden, die im Rahmen einer humanistischen Bildung einen hervorragenden Rang genossen. Interessant ist dabei, womit der Reigen der am Erzähler vorbeirauschenden Gegenstände unterbrochen wird: Da erscheint zunächst ein griechischer Hoplit, dann die Gemälde preußischer Herrscher und am Ende: Hitler. Außerdem: In die Lücke zwischen den antiken Herrscher- und Götterbildern auf dem Weg zum Zeichensaal nistet sich eine Darstellung der deutschen Kolonie in Togo.

Wiewohl also Versuche unternommen werden, sich die kulturelle Tradition zu Eigen zu machen, respektive sie zu unterminieren, erweisen sie sich aus Sicht des Erzählers dennoch als gegen derartige Anmaßungen resistent: Das Kreuz hatte sich gleichsam in die Wand eingebrannt, bleibt trotz der heftigen Maßnahmen zur endgültigen Auslöschung jedem Betrachter bräunlich und deutlich sichtbar. Die Wut, mit der man die ganze Wand neu gepinselt hat, vermochte es nicht, diesen Rest von Kultur zu überdecken. War es auch ein alte[s], schwache[s], kleine[s] Kreuz, das man abgehängt hatte – hart und klar, ja sogar schön blieb das Kreuzzeichen auf der verschossenen Tünche der Wand. Der Blick auf das Kreuz und somit auf die christliche Tradition wird getrübt. Erhalten bleibt aber nicht nur der Blick selbst, sondern auch die Tradition, die sich nicht so einfach austilgen lässt. Wie auf einem Palimpsest die ursprüngliche Schrift wieder sichtbar gemacht werden kann, so kann auch in der Kulturgeschichte nach dem Versuch, eine Tradition auszulöschen, diese wiederhergestellt werden. Zumal dann, wenn sie aus dem Blick des Betrachters nie ganz gewichen ist.

Traditionen

Jenseits der christlichen Tradition, die ganz offensichtlich ausgelöscht werden sollte, blieben andere bestehen. Dabei fällt an der Komposition des Erzähltextes auf, dass man offenbar versuchte, sie fortzuschreiben und dadurch mit neuen Inhalten zu füllen. So säumen Kopien antiker Kunstwerke und solcher, die sich thematisch mit antiker Mythologie auseinandersetzen, den Weg des Erzählers in den Zeichensaal. Dazwischen schieben sich Abbilder preußisch-brandenburgischer Herrscher, ein Bild aus der kolonialistischen Ära des wilhelminischen Kaiserreichs, eines von Nietzsche und schließlich gar ein Gemälde Adolf Hitlers und eine Sammlung von Rassegesichtern. Drei Traditionsstränge werden hier folglich vermischt: (1.) die Idealisierung der Antike, (2.) die militaristische Tradition Brandenburg-Preußen-Deutschlands und (3.) die Ideologie des Nationalsozialismus, wobei Nietzsche, krass fehlgedeutet, als Prophet dieser Bewegung figuriert.

So hängt beispielsweise zwischen den Büsten von Caesar, Cicero, Marc Aurel und dem Zeus über dem Zeichensaal ein Bild, das die wilhelminische Kolonialherrschaft in Togo verherrlicht. Darauf, dass diese Kolonialgeschichte eine Kehrseite hat, weist der Feuerschein auf der dem Bild gegenüberliegenden Seite des Ganges hin: Hinter der Fensterfront glüht die in Flammen stehende Stadt. Ein unaufdringliches, aber nichtsdestotrotz deutliches Symbol für die andere Seite der über andere ausgeübten Herrschaft. Daneben stehen die Gemälde einer militaristischen Tradition, vom Großen Kurfürsten bis Hitler, an die die neuen Machthaber bruchlos anschließen. Friedrich Wilhelm von Brandenburg (1620–1688), der Große Kurfürst, konnte im Zuge des Westfälischen Friedens große Gebietsgewinne verzeichnen, die er später auszubauen versuchte. Dieses Motiv der expansiven Herrschaft findet sich auch bei Hitler, dessen Politik, fußend auf seiner abstrusen Philosophie vom Lebensraum, ebenfalls auf Gebietsausdehnung abzielte. Der weiter hinten hängende Alte Fritz, also Friedrich II. (1712–1786), hätte hervorragend in diese Reihe gepasst. Nachdem sich unter ihm Preußen im Siebenjährigen Krieg (1756–1763) gegen die großen europäischen Mächte militärisch behaupten und selbst zu einer Großmacht aufsteigen konnte, war es auch maßgeblich an der ersten Teilung Polens (1772) beteiligt, was nach zwei weiteren Teilungen 1795 zur vollständigen Auflösung des Landes führte. Zwar wird er – auch heute noch – wegen seiner tolerant aufklärerischen Haltung gefeiert (denn hier muß ein jeder nach seiner Fasson selich werden), doch hat dieses Bild Risse. Denn 1750 unterzeichnete Friedrich II. das so genannte Revidierte General-Privilegium und Reglement vor die Judenschaft, welches für die Juden erhebliche Beschneidungen der bürgerlichen Rechte bedeutete (z. B. Verbot von Mischehen oder Verwehrung des Zutritts zu Staats- und Lehrämtern). Die Glorifizierung eines solchen Herrschers ist mithin nur im Rahmen einer geschichtsfernen Interpretation seines Wirkens möglich.

Ein Bild dafür, wie auch dichterische Traditionen okkupiert und umgedeutet wurden, bietet das der Erzählung den Namen gebende Zitat Wanderer, kommst du nach Sparta aus Schillers Der Spaziergang. Als bündele sich die Aussage von Schillers Text in den Versen

»Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, du habest
Uns hier liegen gesehn, wie das Gesetz es befahl.«2

Als handele es sich um eine Lobeshymne auf die militärische Pflicht, auf das, was Schiller zwei Verse zuvor als Ehre ward euch und Sieg bezeichnete. So scheint es wird dieses Gedicht rezipiert, wenn der Erzähler als Schüler in seiner Kalligraphiestunde gerade diese Verse schreiben musste. Dass in Schillers Gedicht die auf dem Boden des beschriebenen Krieges wachsende Kultur verdammt ist, zugrunde zu gehen, scheint keine Rolle zu spielen. Dass der Spaziergang von Schillers lyrischem Erzähler einer durch die Geschichte ist, der sich am Ende zu seinem Anfang, dem Leben des Menschen im Einklang mit der Natur, zurückwendet, ist Makulatur. Dabei erscheint dem lyrischen Erzähler schließlich alles Erlebte, und dazu gehören auch die kriegerischen Episoden, nur als Traum, der mich schaudernd ergriff mit des Lebens furchtbarem Bilde. In diesem Gedicht geht es nicht um heroischen Kampf, sondern den Weg zurück zur Natur:

Reiner nehm ich mein Leben von deinem reinen Altare3,
Nehme den fröhlichen Mut hoffender Jugend4 zurück.

Diese selektive Rezeption von Schillers lyrischem Werk zog sich bis weit in das 20. Jahrhundert hin. Als ein Editor 1966 mit dieser Tradition, zugegebenermaßen sehr radikal, brechen wollte, führte dies zu einem Eklat. Denn in diesem Jahr erschien im Insel-Verlag eine vierbändige Ausgabe mit gesammelten Werken Schillers. Die Auswahl der Gedichte besorgte Hans Magnus Enzensberger, wobei nicht wenige der berühmtesten Texte des Klassikers durch die Maschen des Enzensberger’schen Siebs fielen: Darunter Das Lied von der Glocke, Die Kraniche des Ibykus, Die Bürgschaft u. a. m. Enzensberger wollte mit seiner Auswahl dagegen protestieren, dass zu viele Leser ungerechtfertigterweise einige wenige Gedichte Schillers zu dessen Hauptwerk erklärt und mit Schillers Poesie schlechthin verwechselt haben. Auf den Punkt gebracht lautete Enzensbergers Kritik: Schiller ist keine Zitatengrube.5 Nun, Schiller war lange Zeit eine Zitatengrube, und genau diesem Umstand, zu allen sich bietenden Gelegenheiten mehr oder minder stimmige Sinnsprüche aus Schillers Werk herauszuklauben, verdankt Heinrich Bölls Text Wanderer, kommst du nach Spa… seinen Titel. Er, der Titel, ist also als Kritik an der selektiven Wahrnehmung und Vereinnahmung des Dichters zu lesen. Diese Kritik schließt aber auch ein ähnliches Vorgehen gegenüber anderen Traditionslinien, die ich oben schon erwähnt habe, ein.

Bezeichnend ist darüber hinaus, dass das Zitat mitten im Wort abbricht. Zwar erklärt sich dies aus dem Umstand, dass ein Feuerwehrmann, der ehemalige Hausmeister des Gymnasiums, Birgeler, vor ihm steht und seinen Schluss verdeckt. Gleichwohl ist dies auch symbolisch zu verstehen. Das Zitat bricht ab, wie die Traditionen und die Ordnung, die sie gestiftet haben, im Abbruch begriffen sind. Ja, man könnte vielleicht noch weiter gehen und sagen: Die Traditionen sind die fehlenden Glieder der Erzählerfigur. Die Versehrtheit oder gar das Sterben des Protagonisten und die Auflösung der althergebrachten Ordnung korrelieren miteinander. Im Kopf des Erzählers verschwimmt alles zu einer Melange, die in seiner Gänze nur noch mit Sterben identifiziert werden kann. Darum auch seine Feststellung, dass er sich in einem Totenhaus befinde. Es handelt sich für ihn nicht mehr um seine alte Schule, sondern ein Gebäude angefüllt mit toten Werten – repräsentiert durch Gemälde, Büsten, Sentenzen – und sterbenden Menschen, deren Repräsentant der Erzähler selbst ist.

Das wunde Ich

Womit wir beim Protagonisten angelangt wären. Seine Geschichte spielt zu der Zeit des Zweiten Weltkrieges, als die Desillusion schon perfekt war. Die Ordnung, sowohl die tradierte als auch die neue, war – wie bereits mehrfach erwähnt – im Zerfallen begriffen. Ein Bild für diesen Verfall der Ordnung ist die Anfangsszene, in der der Fahrer des Verwundeten- und Totentransports verärgert ausruft: […] verdunkelt ihr schon nicht mehr?, worauf die spöttische Antwort geschrieen wird: Da nützt kein Verdunkeln mehr, wenn die ganze Stadt wie eine Fackel brennt. Man kann die Lage mit einem Wort fassen: Unordnung, und mittendrin: das verlorene Ich. Denn im Mittelpunkt der Erzählung steht eine einzige, man könnte gar sagen: vereinzelte Person. Vereinzelt deswegen, weil sie sich auf der abschüssigen Bahn zwischen Subjekt und Objekt weit in die Richtung des letzteren bewegt hat. Sie handelt nicht mehr, mit ihr wird gehandelt. Ihre Kommunikation erschöpft sich in Fragen (Wo sind wir?), Bitten (Was zu trinken […] und noch ’ne Zigarette) und Schreien ([…] es war immer wieder schön, zu schreien). Löste sich die an eine ältere Tradition anschließende neue Ordnung des Nationalsozialismus auch auf, so führte dies im Moment der Auflösung keineswegs zur sofortigen Befreiung des Individuums; es wurde vielmehr paralysiert. Dass der Erzähler vermutet, er könne seine Arme deswegen nicht bewegen, weil sie fest an den Körper gebunden seien, ist ein beredtes Bild dafür. Dehnt es den Aussagebereich doch über die einzelne Person hinweg aus. Eine so weitgehende Verstrickung in das nationalsozialistische System, so könnte man diesen Gedanken weiterverfolgen, kann nicht einfach folgenfrei abgeschüttelt werden. Sind die alten Wertetraditionen auch noch vorhanden (vgl. Die Kreuzsymbolik), so sind sie dennoch nicht ohne Weiteres wieder herzustellen. Die Defekte, die sie erlitten haben, müssen erst repariert werden.

In den Kontext der Personenzentriertheit der Kurzgeschichte gehört ferner die Erzählerposition. In Wanderer, kommst du nach Spa… liegt ein homodiegetischer, also am Geschehen partizipierender Erzähler, der gleichwohl keinen Überblick über das Geschehen selbst hat, vor. Auch dies ist bildhafter Ausdruck für die überblickslose Zeit des endenden Nationalsozialismus, in der sich das Individuum allmählich selbst verliert. Das wunde, verlorene, aller Identifikationen beraubte Ich kann seine Umwelt nur noch als sterbend wahrnehmen (vgl. Traditionen). Was, so muss man fragen, findet sich noch im Totenhaus der Geschichte, an das der Erzähler seine Erinnerungen knüpfen kann, knüpfen mag? Was bleibt ihm bis zuletzt?

Milch, lautet die Antwort. Denn was der Erzähler als Halt anerkennt, liegt fernab jeder vereinnahmten Tradition, ist ganz persönliche Erinnerung: Einerseits der Geruch von warmer Milch im Kabuff des Hausmeisters Birgeler und andererseits seine eigene Handschrift, die zu sehen schlimmer sei, als wenn man sich im Spiegel betrachte, erinnert sie ihn doch an die qualvollen Stunden im Zeichenunterricht. Es scheint Folge des Verlustes der Werte, die hinter den generationenlang bewährten Schulrequisiten stehen, zu sein, dass nicht mehr sie, sondern nur noch die individuelle Alltagserinnerung als Wiedererkennungs- und Identifikationsmerkmal dienen kann. Konterkariert wird die Erinnerung des Erzählers allerdings durch den neuen Geruch, den der Hausmeister angenommen hat, einen brandigen, schmutzigen. Auch in die Fragmente seiner Erinnerungen scheint sich die allgegenwärtige Zersetzung hineingeschlichen zu haben. Ferner liegen in diesem dämmrigen kleinen Stübchen des Hausmeisters, dem Refugium der Erinnerungen, jetzt die Leichen – so vermutet es der Ich-Erzähler zumindest. Der Ort also, den er in diesem Totenhaus mit schönem Leben verbindet, ist von Tod erfüllt.

Eine Initiationsgeschichte?

Manfred Durzak6 hat versucht diese Erzählung Bölls als das verkürzte Muster der Initiationsreise zu deuten. Nur daß das Ziel der Reise hier bei Böll nicht die unter Schmerzen erreichte Sozialisierung des Jugendlichen und seiner Eingliederung in das Wirklichkeitssystem der Erwachsenen darstellt, sondern als Inversion dieser Reise in den Tod einmündet7, wie er konstatiert. Durzak relativiert folglich seine ursprüngliche Idee, dass es sich bei Wanderer, kommst du nach Spa… um eine Initiationsgeschichte handeln könnte. Ich möchte es hier noch ein wenig entschiedener tun.

Wie verläuft eine Initiationsgeschichte? Typisch ist für sie, dass die Initianten (1.) aus der Gesellschaft ausgestoßen werden, (2.) einen Leidensweg fernab dieser beschreiten müssen und (3.) schließlich wieder erfolgreich in sie eingegliedert werden. Einige Beispiele: Hänsel und Gretel werden im finsteren Wald allein gelassen. Dort müssen sie sich dem homophagen Ansinnen einer Hexe erwehren, die sie letztlich besiegen. Mit erbeuteten Reichtümern kehren sie heim. Da hatten alle Sorgen ein Ende, und sie lebten in lauter Freude zusammen. Schon in antiken Mythen finden sich vergleichbare Muster. Z. B. in der Mädchentragödie um die Königstochter Io. Diese wird von Zeus verführt und zur Tarnung seines Ehebruchs in eine weiße Kuh verwandelt. Hera, Zeus’ Gattin, scheucht sie aus Rache um die Welt. Erschöpft gelangt sie bis nach Ägypten, wo sie vom Fluch der Verwandlung befreit wird und den Stammvater eines edlen Geschlechts gebiert. Auch Adalbert Stifter mischt in seiner Novelle Bergkristall die Karten für eine solche Initiationsreise: Zwei Kinder verlassen das heimatliche Tal, um Verwandte zu besuchen. Auf dem Rückweg geraten sie in einen Schneesturm, verlaufen sich in einer Contradictio in adjecto, der weißen Finsternis, müssen in Eiseskälte in den Bergen übernachten und werden schließlich von der verzweifelt suchenden Dorfgemeinschaft gefunden. Dieses Ereignis initiiert gleichsam die ganze Familie, mit Mutter und Vater, die in ihrem Dorf zunächst als Fremde galten: Die Kinder waren von dem Tage an erst recht das Eigentum des Dorfes geworden, sie wurden von nun an nicht mehr als Auswärtige sondern als Eingeborene betrachtet, die man sich von dem Berge herab geholt hatte. Das ist Initiation: Man geht aus dem gewohnten Umfeld hinaus in die feindliche Fremde, man leidet, kehrt jedoch glücklich heim und nimmt einen festen und fruchtbaren Platz in der Gesellschaft ein.

Die Parallelen zu Bölls Erzählung sind zwar über Strecken gegeben. So zieht der Held auch hier aus ins Ungewisse, das ihn denn auch schwer verletzt. Der Rückweg allerdings ist abgeschnitten; die glückliche Eingliederung in die Gesellschaft findet nicht statt. Ferner symbolisierte die Fremde, in die der ehemalige Gymnasiast zog, keineswegs ein Ausgestoßensein. Sie wurde vielmehr verherrlicht. Sie war geliebte Fremde, eine Fremde in der gelten könne: Wir alle stehen dann / Mutig für einen Mann, / Kämpfen und bluten gern / Für Thron und Reich!, um Verse aus der dritten Strophe von Heil dir im Siegerkranz, der offiziösen Hymne des wilhelminischen Kaiserreiches zu zitieren. Diese militaristische Haltung steht der Zeit nicht fern, aus der der Erzähler berichtet. Schließlich sei noch angemerkt, dass in Bölls Kurzgeschichte noch nicht einmal klar ist, ob die Wiedereingliederung des versehrten Individuums überhaupt stattfinden kann: Man bedenke, dass das zuletzt ausgesprochen Wort des Ich-Erzählers Milch lautet. Milch aber ist die assoziative Verknüpfung mit dem Hausmeisterstübchen. Und dieses wurde in der Vorstellung des Erzählers mit dem Ort für die Aufbewahrung der Toten identifiziert. Vielleicht deutet dieses letzte Wort des Erzählers seinen Tod an. Und dieses Ereignis liegt, wenn es denn nicht zu einer Wiederbelebung führt, fernab einer Initiationsgeschichte. Ich denke, dass der Hinweis auf klassische Initiationserzählungen von Durzak sehr hilfreich ist, denn auch an diesen tradierten Bildern kann man die Erzählung messen. Die Bezeichnung Anti-Initiationsgeschichte passte allerdings auf die Kurzgeschichte Bölls wesentlich besser.


Ich habe das Symbolrepertoire der Erzählung hier nicht erschöpfend behandelt. So lässt sich beispielsweise noch fragen, wie die zerfetzte Glühbirne, die der Erzähler an der Decke des Verwundetentransporters sieht, mit der Glühbirne über dem Operationstisch zusammenhängt u. v. m. Wichtig bleibt mir aber festzuhalten, dass für diese Erzählung Bölls – wie übrigens auch für alle anderen – gilt, dass symbolhafte Deutung des Geschehens ein tieferes Verständnis der Erzählung ermöglicht. Von der realistisch beschreibenden Haltung des Erzählers sollte man sich nicht täuschen lassen. Der Umfang dessen, was gesagt wird, reicht weiter, als es bei oberflächlicher Betrachtung scheinen mag. Allein von einem Wort ausgehend, in diesem Essay war es Milch, lassen sich die verschiedensten Deutungsstränge entwickeln.

Anmerkungen

1 Vgl. Winkler, Heinrich August: Der lange Weg nach Westen. Bd. 2: Deutsche Geschichte vom Dritten Reich bis zur Wiedervereinigung. 5., durchgesehen Auflage, München (2002), S. 107–9.

2 Das Zitat verweist auf ein antikes Denkmal, dessen Inschrift bei Cicero zitiert wird (Tusc. I, 101: Dic, hospes, Spartae nos te hic vidisse iacentes, / Dum sanctis patriae legibus obsequimur). Deswegen setzte Schiller es auch in Anführungszeichen. Das Denkmal wurde den 480 v. Chr. bei den Thermopylen Gefallenen errichtet, zu Ehren ihres aufopferungsvollen Kampfes. Diese Schlacht war mit militärischen Aktionen zur See koordiniert. Da man nach mehrtägigen Kämpfen die Thermopylen verloren geben musste, versuchte man sie mit einem Rest von etwa 1000 Mann nur noch so lange zu verteidigen, bis die Seeflotte ihren Rückzug vollzogen hatte. Dieses Ziel wurde erreicht. Insgesamt war die Konfrontation mit den Persern aus griechischer Sicht jedoch ein großer Misserfolg.

3 Gemeint ist der reine Altar der Natur.

4 Vielleicht die hoffende Jugend der Menschheit.

5 Vgl. Oellers, Norbert (Hrsg.): Schiller – Zeitgenosse aller Epochen: Dokumente zur Wirkungsgeschichte Schillers in Deutschland. Teil II: 1860–1966. München (1976), S. 470–2 u. S. 605. Marcel Reich-Ranicki kritisierte Enzensbergers Auswahl, wenngleich er ihm zugesteht, dass einige Balladen Schillers aus poetischer Sicht ungenügend seien. Auch Reich-Ranicki hält unser Verhältnis zu seinen [Schillers] Balladen in hohem Maße [für] revisionsbedürftig (In: Kein Lied mehr von der Glocke: Hans Magnus Enzensbergers gereinigte Schiller-Lyrik. In: Ders.: Lauter Verrisse. München (1992) S. 186 [zuerst in Die Zeit vom 6. September 1966]).

6 In: Die deutsche Kurzgeschichte der Gegenwart: Autorenporträts, Werkstattgespräche, Interpretationen. 3., erweiterte Auflage, Würzburg (2002).

7 Ebd. S. 324.