Gier: Ein Unterhaltungsroman von Elfriede Jelinek

! Dies ist ein alter Text! Was heißt das?

Dieser Roman ist gut. Nur, wie geht das, wenn er doch von der Handlung her allenfalls Rohbau ist? Wie Gier formal funktioniert und wo seine literaturhistorischen Wurzeln zu vermuten sind, versucht diese Rezension zu zeigen.

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»Gier«, Buchcover
Elfriede Jelinek: Gier. Ein Unterhaltungs­roman, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2000. (Bildquelle)

Die literarische Moderne hatte etwas zu erzählen. Sie erzählte Geschichten von handelnden Menschen, ebenso wie die Realisten des 19. Jahrhunderts. Sie konnte diese Erzählungen nur nicht mehr geschlossen darbieten, sie nicht mehr komplettieren. Denn die in ihnen handelnden Menschen verstrickten sich in ein Geflecht, das sich jäh zu entflechten begann, ohne zuvor deren gefangene Glieder freizugeben, was unweigerlich zum Zerreißen dieser Personen führen musste. Die literarische Moderne erzählte, so kann man es wohl auf den Punkt bringen, von Menschen, die keine eigenen Grenzen mehr kennen, deren Individualität gebrochen ist, eine Melange aus Ich und Umwelt. Sie erzählte von Menschen, deren Handeln in Selbstzergliederung endet, enden muss aufgrund der Invasion einer unübersichtlichen, in permanenter Beschleunigung begriffenen Welt in den Raum des Individuums. Dieses Zerschmettern der Person konnte mal leidend (wie in Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge), mal interessiert analysierend (wie in Musils Mann ohne Eigenschaften) vonstatten gehen. Charakteristisch blieb jedoch die Vielstelligkeit der Figureninnenleben, was sich wiederum auf die Form des Erzählens auswirkte: Da die Grenzen der Figuren und ihrer Wahrnehmungen verwischten, verwischte auch die Form literarischen Erzählens. Es scheint, als konnte man Romane nur noch in verschiedenen Stadien der Zersetzung darbieten (nähmen wir ein geschlossenes Kunstprodukt wie den Jürg Jenatsch von Meyer einmal als Vergleichsgröße). Zu einer solchen Parallelisierung von Form und Inhalt eignen sich beispielsweise das Tagebuch, das nicht auf ein Ziel hin verfasst wird, sondern Fragmentcharakter behält (wie Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge), oder die essayistische Abschweifung, die etwaige Handlungsstränge v. a. als Anreiz zur Analyse und Reflexion begreift (wie Musils Mann ohne Eigenschaften).

Aber es geht doch um Elfriede Jelineks Gier. Was hat das mit der Literatur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu tun? Nun, meine Anmerkungen zur literarischen Moderne sollen im Folgenden helfen, zu verstehen, wie weit die Entwicklung literarischer Formen in der Gegenwart gediehen ist. Denn Elfriede Jelinek hat nicht einmal mehr eine Geschichte zu erzählen. Es geht in Gier nur noch um die Personen an sich, mit denen gehandelt wird. Ihr eigenständiges Handlungspotential ist weitgehend eingeschränkt. Der Plot ist nicht einmal mehr sekundär, er verschwindet hinter der formalen Gestaltung fast vollständig. Wer wollte auch heute noch ein Büchlein schreiben, in dem Folgendes geschieht!?

Kurt Janisch ist gierig, vor allem auf Häuser. Nebenher auch noch auf Sex mit Frauen und, was erst zum Ende des Romans hin klar wird, auf zartes Jungenfleisch. Nie genug kriegen kann er – von Häusern. Und warum sollte er da nicht das Nützliche mit dem Schönen verbinden und sich seine erste Gier im Zuge der Ausübung der zweiten befriedigen? Kurt Janisch ist nämlich auch Verkehrspolizist, was ihm die Möglichkeit bietet, zahlreiche allein stehende Frauen kennen zu lernen, unter denen die ein oder andere ein schmuckes Häuschen hat, das nur ihr gehört. Da fährt er dann hin, bricht mit ihnen seine Ehe und hofft darauf, dass man ihm das Haus überschreibe. Alles Weitere wird sich bestimmt später finden. Die Frauen, von denen der Roman v. a. erzählt, heißen Gerti und Gabi, wobei Gabi nur die zweite Gier befriedigen kann – mit fünfzehn Jahren hat man schließlich noch kein eigenes Haus. Kurt ist nicht zimperlich, wenn er mit seinen Frauen kopuliert. Und einmal in der Wut seiner Gier zweiten Ranges bringt er die fünfzehnjährige Gabi um, ganz sanft durch Druck auf die Kehle – dann versenkt er sie in einem Baggersee, auf dass man sie nicht finde. Dabei kann man später, nachdem sie gefunden wurde, eigentlich keine Gewaltanwendung am Opfer feststellen. Die Polizei, auch er persönlich, verfolgt diesen Mord – viel wird davon jedoch nicht berichtet und, ob er aufgeklärt wird, bleibt unklar. Die schon ältere, über fünfzig Jahre zählende Gerti müsste eigentlich wissen, wer für das Verschwinden von Gabi verantwortlich ist, kennt sie diese doch als unerwünschte Nebenbuhlerin genauer, als ihr lieb ist. Sie will es aber irgendwie nicht wahrhaben. Gerti scheint überhaupt kaum zu wissen, was sie so alles will und was nicht. Am Ende will Gerti auf jeden Fall nur noch sterben und vermacht dem Gendarmen Kurt vor ihrem Selbstmord noch das Haus, nach dem er so gierte. Finis.

Genauso flapsig wird das erzählt, was darauf hindeutet, dass es in Gier nicht wirklich um die Ausbreitung dieses Plots gehen kann. Denn seien wir ehrlich – da müsste sich selbst ein vifer Krimiautor gehörig anstrengen, dem Leser diese Geschichte schmackhaft zuzubereiten. Dafür, dass es tatsächlich nicht um die Erzählung von Geschehen, sondern die Personen an sich geht, spricht auch, dass der Part Bruchstück bleibt, der in Unterhaltungsromanen doch der Interessanteste ist: nämlich die Aufklärung des Geschehens. Diese Erzählung geschieht einfach nicht. Was aber geschieht denn nun im Roman, wenn nur noch das Amputat eines Plots erzählt wird? Nun, die Form geschieht. Das Grundmuster des Erzählstrangs fungiert v. a. als Aufhänger zur Untersuchung und Erklärung des Romanpersonals. Was sich genau formal abspielt, wird durchsichtig, wenn man berücksichtig, was ich einleitend über die Erzählweise der Moderne geschrieben habe. Nun kann man zwar nicht dem Gedanken verfallen, Elfriede Jelineks Gier sei direkter Abkömmling der erwähnten Werke von Rilke und Musil. Es finden sich allerdings verschiedene formale Phänomene dieser in jenem wieder:

(1) Der Plot wird in nahezu vollendeter Form zerschlagen. Das bisschen, was überhaupt vorhanden ist, wird repetitiv erzählt, wird rückwärts erzählt, wird vollkommen durcheinander erzählt. Es kommt zu mannigfachen, sehr deutlich vorgetragenen Anachronien, d. h. Analepsen (Rückwendungen im Erzählstrang) und Prolepsen (Vorgriffen im Erzählstrang), die immer nur locker an das direkt zuvor Erzählte angebunden werden. Dazwischen: ein Stoß von Kommentaren. Ein Beispiel für das auseinanderdriftende, intermittierende Erzählen eines Vorgangs ist das Versenken der Toten Gabi im See. Auf den Seiten 98–99 wird beschrieben, wie Kurt Janisch die Leiche in eine grüne Abdeckplane einwickelt, kurz bevor er sie in den See zerrt. Erst über 60 Seiten später, ab S. 160, setzt das unterbrochene Geschehen wieder ein. Zwischendurch: die Erzählung der sexuellen Beziehungen des Kurt Janisch und die erstmalige Präsentation der noch fast lebenden Leiche Gabi. Last but not least wird die Erzählung, wie schon erwähnt, nicht einmal bis zu ihrem Ende in spe, der Aufklärung des Mordes, durchgeführt, wenngleich der Roman 460 Seiten umfasst, mithin genügend Raum bieten könnte. Aber Gier will nicht einfach unterhalten, indem ein klassisches Thema zum x-ten Mal durchgearbeitet wird. Der Untertitel ist ironisch resp. zynisch zu verstehen.

(2) Der Erzähler lebt seine Neigung zur Abschweifung in nachgerade vollendeter Form aus. Dabei ist dieses Abgleiten des Erzählens, was das Plot-Geschehen nur mehr als Randnotiz erscheinen lässt, nicht analytisch (wie bei Musil), sondern kommentarartig, dabei zynisch-wütend, boshaft bewegt, mitunter ausführlich. So wird beispielsweise ab S. 75 der Baggersee, in dem der Mörder Kurt später die tote Gabi versenken wird, über dutzende von Seiten hinweg beschrieben. Ein Vorgang, der immer wieder zu bissigen Anmerkungen über den Menschenschlag führt, der sich in der Umgebung dieses Sees für gewöhnlich tummelt. Z. B.:

Diese Menschen gehen nicht in der unüberblickbaren Welt der Reichen herum. Es sind öfter Familien mit kleineren Kindern […]. Meist sind es aber Pensionisten, deren Lebensabend ihnen das ganze Fernsehprogramm gönnt, weil sie in der Früh nicht aufstehen müssen. […]
Da gehn schon wieder zwei Leute, nein, drei, in Wanderhosen und Bergschuhen, ausgerüstet mit Stöcken, auf diesem schmalen Wegerl, auf dem man notfalls auch mit Stöckelschuhen gehen könnte, denn es bietet keinerlei Geländeschwierigkeiten. Doch zünftig für die grobschlächtigen Berge aufgetakelt, so macht es halt mehr Spaß und kostet auch nicht viel mehr. Das sind Leute, die würden sich noch im Sarg passend und bequem (damit sie sich dort öfter mal umdrehen können), aber doch preiswert kleiden für den Himmel, damit man sie dort überhaupt hineinläßt. (S. 83–84)

Die Beschreibung des Sees mündet erst 25 Seiten später wieder in das Plot-Geschehen. Beispiele dieses ätzenden Spotts sind Legion und gleichsam der rote Faden des Romans, sie übernehmen quasi eine den Leser leitende Funktion, die der Erzählung an sich, dem Plot nicht mehr zukommt. Das Erzählen, die Art und Weise, das Wie rückt in den Vordergrund. Gleichwohl sollte man nicht übersehen, dass solch ausufernde Abschweifungen grundsätzlich nutzbar gemacht werden, um das dürftige Geschehen mit Bedeutung aufzuladen. So könne für den ökologisch toten See summa summarum gelten: Es fehlt ihm das entscheidende Detail, daß Leben in ihm ist. (S. 76) Die Leblosigkeit der Ermordeten, die letztlich in ihm versenkt wird, korrespondiert mit der Abgestorbenheit des Baggersees. Gleiches gilt für das immer wieder auftauchende Motiv des Bergrutsches aufgrund zu intensiven Bergbaus, der diesen Berg aber nicht aufgebaut hat (Berufsangabe ist unrichtig!) (S. 197). Der hohle Berg, der sich nicht aufrecht halten kann, der in sich zusammenfällt und infolgedessen eine Katastrophe verursacht, spiegelt die Konstitution der zu seinen Füßen lebenden Menschen wider. Deren Kollaps mündet parallel zu dem des Berges ebenso im Unheil: Das alles haben wir dem Bergbau zu verdanken, daß wir so hohl sind. (S. 189)

(3) Die Personen scheinen nicht mehr vollkommen über sich selbst zu verfügen. All ihre Handlungen sind eingebunden in ein Bedingungsgefüge, das zu zwanghaftem, willenlosem Verhalten treibt. Dabei basiert dieses triebhafte Moment nicht vornehmlich auf der Unmöglichkeit, die hochkomplexe Welt in ihrer Gänze zu erfassen (wie bei Rilke oder Musil). Vielmehr ist die Stumpfheit in der Wahrnehmung von Weltwirklichkeit und mangelnder Reflexionswille der Figuren ausschlaggebend. Das Personal orientiert sich an künstlichen Bildern aus einer entpersonifizierten Lebensumwelt. Das Foto von Gabi, welches auf den Suchplakaten der noch Vermissten, aber schon längst Toten abgebildet ist, zeigt im Grunde nicht sie selbst, sondern Elemente, die sich der Teenager aus der medialen Umwelt zusammensuchte und aus denen er sich dann zu einer Kunstfigur zusammensetzte:

Obwohl sie alle die Gabi zumindest vom Sehen gut kennen, sie ist ja hier aufgewachsen, kommt sie ihnen auf dem Foto fremd vor. […] Eine vollkommen andre Seite zeigt sich hier, die man im Leben nicht bemerkt hat. Andrerseits ist ihnen so ein Aussehen aus den Zeitschriften […] völlig vertraut, und auch daß die Gabi mehr aus- als angezogen ist auf dem Foto, kommt ihnen normal vor, seit sie die Mattscheibe haben, also seit Jahrzehnten schon. (S. 310)
Das Verschwinden dieses Mädchens ist gar kein Problem, denn es ist dermaßen vielfältig vorhanden. Es hat sich genauso hergerichtet wie alle anderen (S. 166).

In Ansätzen lässt sich diese Form des Erzählens, deren Fundament auf freiem Assoziieren, Umdeutung von Sprichwörtern oder einem Allzu-wörtlich-Nehmen steht, schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beobachten. Jelinek führt jedoch Phänomene, die man dort bereits findet, ungleich radikaler durch und beschenkt sich en passant mit einem charakteristischen, ausdrucksvollen Stil. Die vom Mann ausgehende Gewalt (hier nur stiefmütterlich thematisiert, vielleicht aber das Thema des Romans), unter der in Gier allein die Frauen zu leiden haben, gewinnt durch die ungeschönte Beschreibung der männlichen Gewaltobsessionen und der allzu großen Nachgiebigkeit, ja Naivität, mit der sich Frauen ihr ergeben, in Verbindung mit Jelineks Sprache an ungewöhnlicher Plastizität. Das macht den Roman wertvoll und zu einem Lesevergnügen (das natürlich im Geruch des Obszönen steht; wer gibt schon gerne zu, im Konzert der Grausamkeiten sein Vergnügen zu finden). Möglich wird dieser andere Blick aber erst durch die Fokussierung auf die Figuren in der oben beschriebenen Weise. Folge ist das Verblassen des Handlungsstrangs. Die so entstandenen Personenbilder stimmen nachdenklich, gerade weil sie aus Alltagsmythen unserer Zeit kreiert wurden. Kommt es am Ende des Romans auch nicht zu einer Aufklärung des Mordes, so erklärt er doch das Personal und dessen Handlungen. Der Leser bekommt somit zwar ein Stückchen Welterklärung, aber kein Stück Sinnstiftung serviert. Das wäre dann doch zu altbacken.

Bleiben zum Schluss wohl noch zwei Fragen: Kann man für so etwas einen Nobelpreis bekommen? Sollte man so etwas lesen? Und die Antworten: Ja, man kann. Ja, man sollte.