Über Guantánamo ist alles gesagt.
Roger Willemsen spricht mit ehemaligen Häftlingen

Die 2002 auf Kuba errichteten Gefangenenlager sind seit ihrem Bestehen in aller Munde. Die ganze Welt scheint sich mit ihnen und dem Schicksal der dort Inhaftierten unentwegt zu beschäftigen. Und doch bleibt trotz des nicht abreißen wollenden Stroms an Kommentaren eine Lücke: Die Stimmen der mittlerweile Freigekommenen sind unterrepräsentiert. Roger Willemsen veröffentlichte 2006 eine Interviewsammlung, die hier Abhilfe schaffen wollte. Eine Rezension.

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»Hier spricht Guantánamo«, Buchcover
Roger Willemsen: Hier spricht Guantánamo. Interviews mit Ex-Häftlingen, Frankfurt a. M.: Fischer 2006. (Bildquelle)

Wer spricht eigentlich über Guantánamo? Seitdem die USA Anfang 2002 auf ihrem kubanischen Marinestützpunkt Guantánamo Bay mehrere Gefangenenlager speziell für Kriegsgefangene aus Afghanistan einrichteten, sind diese ununterbrochen in der Diskussion. Ein Skandal jagt den nächsten. Ob es um das zweifelhafte Konstrukt der illegal combatants geht, das den rechtlichen Status dieser Individuen radikal auslöscht (Agamben); oder ob es um Verhöre unter Anwendung von Folter und die wiederholte Schändung des Korans geht – jede solcher Meldungen eignet sich dazu, heftige Kritik und (mitunter) zynische Entgegnungen zu provozieren. So kommentierte Colleen Graffy, eine Sprecherin der US-Regierung, die Selbstmorde von drei Inhaftierten mit dem denkwürdigen Satz: Die Selbstmorde sind ein guter PR-Gag, um Aufmerksamkeit zu erregen. Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über! Derart freimütige Bemerkungen rufen natürlich heftige Gegenreaktionen hervor. Und so dreht sich der Kreisel des Interesses weiter und weiter: Guantánamo bleibt im Blickpunkt, Guantánamo bleibt im Gespräch. Doch wer spricht eigentlich über Guantánamo? Es ist tatsächlich auffällig, dass jeder willens und in der Lage scheint, einen Kommentar über das Skandallager abzugeben. Die Betroffenen, die nach Kuba verbracht wurden, kommen dagegen nur selten zu Wort.

Angesichts dieser Tatsache machte sich der Publizist Roger Willemsen auf die Suche nach ehemaligen Guantánamo-Häftlingen. Ein Afghane, ein Jordanier, ein Palästinenser und zwei Russen; ehemals Botschafter der Taliban, Gewürzhändler, Religionslehrer, Ingenieur und Unternehmer; fünf Männer, die längere Zeit in Guantánamo waren, erklärten sich bereit, interviewt zu werden. Die Gespräche hat Willemsen jüngst unter dem Titel Hier spricht Guantánamo veröffentlicht. In den fünf Interviews interessiert er sich aber keineswegs nur für die Erlebnisse der Männer im Lager selbst, was der Titel ja vermuten lässt. Auch die Lebensgeschichte vor ihrer Festnahme, die Festnahme selbst und der mitunter lange und qualvolle Weg nach Guantánamo werden thematisiert. Gerade weil die Interviews sich nicht nur auf die Erlebnisse im Lager fokussieren, erfährt man viel über die persönlichen Erfahrungen und Überzeugungen dieser fünf Menschen, aber auch über die Muster, wie sie zu mutmaßlichen Terroristen wurden. Gleichsam en passant fällt dann auch noch ein Schlaglicht auf Skandale, die in unseren Medien kaum wahrgenommen werden: so zum Beispiel auf das Gefangenenlager im afghanischen Bagram, in dem unsägliche Zustände herrschen sollen. Die Ergiebigkeit der Gespräche ist allein Willemsen zu verdanken. Er bringt die Ex-Häftlinge zum Reden, zum Erzählen ihrer Geschichten, sodass schließlich mehr als neunzig Prozent des Buchs allein ihnen gehören. Willemsen selbst bleibt im Hintergrund. Er fungiert als Wegweiser, gibt die Richtung vor. Was seine Interviewpartner ihm dann über ihren Weg erzählen, bleibt ihnen überlassen. Hartnäckiges Nachhaken ist Willemsens Sache nicht. Dafür umso mehr ein scheinbar grenzenloses Einfühlungsvermögen in das Denken seines jeweiligen Gegenüber. Das ist seine Methode, und die hat, neben ihren Stärken, durchaus auch ihre Schwächen.

Stärken und Schwächen von Willemsens Ansatz treten im Interview mit Abdulsalam Daeef, Botschafter der Taliban in Afghanistan, exemplarisch zu Tage. Denn allein durch Einfühlungsvermögen, Offenheit und dem daraus resultierenden Vertrauen vermag er es, sein Gegenüber zum Sprechen zu bringen. Durch diese Herangehensweise beraubt Willemsen sich aber zugleich der Möglichkeit, seinen Gesprächspartner mit abweichenden Meinungen zu konfrontieren. Und das erscheint durchaus nötig, kann man Daeef doch mit gutem Gewissen – soviel geht aus seiner Lebensgeschichte hervor – als eine Stütze des verbrecherischen Regimes der Taliban bezeichnen. Mit dieser Tatsache konfrontiert Willemsen ihn gleichwohl nicht. Als Daeef euphemistisch von religiösen Schwierigkeiten spricht, die zwischen dem Westen und den Taliban bestanden haben, wird diese Formulierung von ihm nicht direkt hinterfragt. Später souffliert er ihm sogar: Amerika interessiert sich vermutlich weniger für die Geschichte, die Kultur und die Interessen Afghanistans. Ein solches Vorgehen, eine derartige Nachsichtigkeit und Neigung zu Bestätigungen und Suggestivfragen müsste man bedauern, ginge es Willemsen bei seinen Interviews um ein unterkühltes Wissenwollen, ginge es ihm um eine faktenschwangere Dokumentation dessen, was man für wahr halten soll und kann. Hätte er sich mit diesen Absichten beladen, wäre es allerdings sehr zweifelhaft, ob die fünf Männer sich ihm dann überhaupt in einem solch erstaunlich großen Umfang geöffnet hätten – wäre er doch durch kritische Nachfragen allzu sehr in die Nähe eines Verhörleiters gerückt. Tatsächlich stand für Willemsen im Vordergrund, einen Raum zum Reden zu schaffen. In dem sollten die ehemaligen Gefangenen frei und ohne persönlich angegangen zu werden, ihre Geschichte so darstellen können, wie sie sie erzählen wollen – und nicht so, wie sie sie erzählen sollen. Denn, so Willemsen, über Guantánamo ist alles gesagt. Bis auf das, was die Häftlinge zu sagen hätten.

Letztlich wird diese Schwäche der Interviews zugleich zu einer ihrer Stärken. Denn sie macht nicht nur eine kritische Haltung des Lesers gegenüber dem Erzählten nötig. Sie zeigt auch, dass Meinungen auf Wahrnehmungsmustern beruhen, die unter anderem von einem spezifischen kulturellen Umfeld geprägt sind. Dass die Guantánamo-Häftlinge in ihren orangefarbigen Overalls in den Augen der amerikanischen Öffentlichkeit symbolisch als zum Tode Verurteilte stigmatisiert wurden, haben die fünf Interviewten so überhaupt nicht wahrgenommen. Die Symbolik der Farbe Orange im amerikanischen Justizwesen war ihnen schlicht unbekannt. Umgekehrt dürfte es für die Aufseher des Lagers unverständlich gewesen sein, warum die Gefangenen durchweg den Wunsch äußerten, sich ihre Schamhaare rasieren zu dürfen. Von solchen, religiös begründeten Vorschriften hat man dort noch nie gehört.

Diese Details, von denen die Interviews voll sind, ermöglichen es, die Tatsachenbeschreibungen der Ex-Häftlinge weiter und anders zu denken. So kann die Feststellung, dass sie symbolisch zum Tode verurteilt wurden, der Zugang zu einem tiefer gehenden Verständnis des Lagers sein. Ganz offenbar – die Symbolsprache weist darauf hin – hat die US-Regierung mit der Errichtung Guantánamos neben außenpolitischen Zielen auch (vielleicht sogar vor allem) innenpolitische verfolgt. Denn spätestens seit Machiavelli ist allen Politikern die Notwendigkeit bekannt, dass man das Volk zum Freund haben muss. Von diesem Gedanken ist der Weg nicht weit, die Errichtung eines Lagers, in dem die (vermeintlich) Verantwortlichen für die Anschläge vom 11. September 2001 inhaftiert wurden, als etwas zu verstehen, das nach innen die Handlungsfähigkeit der amerikanischen Regierung belegen soll. Dadurch wiederum sollte einerseits die Wiederwahl und andererseits die Unterstützung weiterer außenpolitischer Projekte (Irak-Krieg) durch das Volk gesichert werden. Dieser Weg war erfolgreich, denn durch nichts kann ein Politiker so hohes Ansehen erlangen wie durch den außergewöhnlichen Beweis seiner Tatkraft (Machiavelli). Vice versa lässt sich die (europäische) Kritik am Lager ebenfalls als innenpolitisch gerichtet verstehen: Nämlich als eine Form der Selbstversicherung, die sich bewusst und betont in Opposition zur amerikanischen Handlungsweise setzt. Dass man dabei durchaus nicht frei von Selbstgefälligkeiten und Bigotterien ist, zeigt zum Beispiel die doppelzüngige Haltung der 2005 abgewählten deutschen Regierung in Sachen Irak-Krieg. Im Wahlkampf verkündete man Krethi und Plethi ein entschiedenes Ohne uns; später unterstützte man die USA durch die Gewährung von Überflugrechten, militärische Entlastung an anderen Fronten usw.

Auch in Anbetracht all der Möglichkeiten der gedanklichen Auseinandersetzung, die die Interviewsammlung von Willemsen bereitstellt, kann man sagen, dass das Buch alles in allem lesenswert, erhellend und, wie ich denke, auch wichtig ist. Da aber manche Aussagen frag-würdig bleiben, sollte man sich seiner Fähigkeit zum kritischen Nachdenken über das Gelesene auf jeden Fall bedienen. Das fällt angesichts der mitunter bestürzenden Details jedoch alles andere als leicht.