Wolfgang Borcherts Draußen vor der Tür

! Dies ist ein alter Text! Was heißt das?

Der Essay zeigt, dass Borcherts Hörspiel Draußen vor der Tür und die poetologischen Prinzipien, nach denen der Text konstruiert wurde, nur dann verständlich sind, wenn der zeitgeschichtliche Kontext mitbedacht wird. Abschließend wird die Frage gestellt, was uns ein derartiges, allein aus seiner Zeit heraus verständliches Stück Literatur heute noch sein kann.

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Das ist das Deutschland des Jahres 1947, getüncht in das Grau der Städte und durchsetzt mit dem Grau der Heimkehrermäntel, gezeichnet vom Staub der Ruinen und durchhaucht von den entgeisterten Mündern der Überlebenden. Dieses Jahr 1947 liegt kaum zwei Jahre hinter der großen Katastrophe, Stunde null… oder besser: nach dem fulminanten Ende einer Katastrophe, die über Jahrzehnte schwelte und der auf ihrem Höhepunkt so manch einer nicht mehr entrinnen konnte. Dieses Jahr 1947 ist in Deutschland auch das Jahr einer fortschreitenden Entnazifizierung, der Befriedigung des Gewissens durch den administrativen Akt der Persilscheinausstellung, der den unglaublichen Verbrechen Kategorien anbot: Hauptschuldige, Belastete, Minderbelastete, Mitläufer, Entlastete… Blickt man aus der Sicht des Jahres 1947 in die Zukunft, so zeichnen sich die Fanale des heraufziehenden Dritten Weltkrieges ab, der jedoch nicht so heißen sollte, dafür heute als kalt attribuiert wird und für beendet gilt; gleichwohl hatte er, dieser Krieg, auch in Deutschland schon damals seine Lager abgesteckt: Bizone versus SBZ. 1947 zeichneten die Kadaver von Jodl und Keitel und Göring und all den anderen gewiss schon ein gehöriges Maß an Zersetzung und die harte Deutsche Mark war ebenso Zukunft wie sie heute Vergangenheit ist. Dieses 1947 ist Teil der Nachkriegszeit. Ein Jahr, in dem deutsche Literatur oft Trümmerliteratur war, weil sie es sein musste? Ein Jahr, in dem sich eine gewisse Gruppe 47 als Werkstatt einer neuen deutschen Literatur aus der Politik herauszuhalten gedachte und doch auf der Basis eines allen Mitgliedern gemeinen Antifaschismus ruhen musste. All das, was 1947 war, all das, was den zeitlichen Rahmen absteckt, sollte vor Augen stehen, das Leben und Fühlen der Mensch dieses Jahres 1947 sollte man versuchen zu verstehen, wann immer Borcherts Hörspiel/Schauspiel Draußen vor der Tür betrachtet wird.


In keiner anderen Umgebung als dieser wäre Draußen vor der Tür denkbar. Das Salz in diesem Werk ist die Verbitterung über die Situation der Menschen nach dem Untergang des tausendjährigen Reiches. Borchert zeichnet insbesondere die Verbitterung der Heimkehrer, der Soldaten, derjenigen, die doppelt und dreifach litten, die sich nicht einmal mit dem Gewissen beruhigen konnten, im Krieg passiv gewesen zu sein. Er zeichnet die Verbitterung derjenigen, die in den vielen kalten Stunden an der Ostfront eine Verantwortungslast auf sich luden, die nicht so leicht abzutragen war wie die Ruinen der Städte, die nicht so leicht zu entsorgen war wie die Hekatomben an Bombentoten. In diesem Umfeld, bedrückt von seiner ganz persönlichen Bürde, startet der Protagonist des Spiels, Beckmann, einen verzweifelten Versuch, sich ihrer zu entledigen, indem er sie seinem ehemaligen Vorgesetzten zurückzugeben versucht: Die Verantwortung. Ich bringe Ihnen die Verantwortung zurück.1

Die Schwere des Verantwortungsjochs, schlägt sich in dem das Spiel einführenden Traum vom Freitod in der Elbe nieder. Der vielfach verletzte Heimkehrer Beckmann vermag den düsteren Film, der sich ihm aus den Versatzstücken der Verlassenheit, der Versehrtheit und des Schuldbewusstseins zusammensetzt, nicht mehr zu ertragen. Er versucht den Zelluloidstreifen dieser grausamen Bilderflut abzuschneiden, er will einzig noch schlafen und vergessen2, da ihm scheint, er könne alles […] nicht mehr da oben3, er könne nicht mehr leben in Verlassenheit, nicht mehr leben mit körperlicher Behinderung und einer nicht abtragbaren Schuld. Indem ihm selbst der Freitod verweigert wird, ihn also, metaphorisch gedacht, selbst die Instanz, welche die Ultima Ratio schlechthin verkörpern soll, zurückweist, manifestiert sich, wie handfest die Verlassenheit dieses Beckmann sein muss. Die Elbe wirft ihn wieder in das Leben zurück, das zu verlassen sein größter Wunsch war. Erst, wenn du den Kanal voll hast, […] wenn du lahmgestrampelt bist, und wenn dein Herz auf allen vieren angekrochen kommt4; allenfalls unter diesen Umständen könne man einen Suizid überhaupt in Erwägung ziehen. Auf die anderen zurückverwiesen wird Beckmann also bereits hier: Laß dich treten. Tritt wieder!5 Die Konfrontation mit der Lebenswirklichkeit, die ein Heimkehrer im Jahre 1947 zu gewärtigen hat, ist also schon hier angelegt, im Vorfeld der ersten Szene.

Beckmanns einmal anklagende und einmal melancholische Besessenheit am eigenen Leid mündet jedoch nie in eine rationale Kritik der vergangenen oder gar der bestehenden Gesellschaftsumstände. Ferner wird hier keine Idee von den Möglichkeiten eines zukünftigen Seins entworfen. Beckmann hat keine Illusionen, er ist im Wortsinn desillusioniert. So spart Borchert in seinem Spiel nicht nur die Aussicht auf ein anderes Leben, eine erneuerte, gereifte Gesellschaft aus, was die Radikalität der Beckmann’schen Klagen und Anklagen notwendigerweise konterkariert hätte, sondern vermeidet auch eine explizite Kritik am Mitläufertum der Vergangenheit. Ein Sturm aus Elegien, die nicht etwa der Kopf, sondern der Bauch gebar, durchweht die folgenden Seiten.

Dass ich den Text hier so charakterisiere, soll ihn nicht etwa als zu wenig rational oder unüberlegt oder gar als Machwerk oder Schmierenstück bloßstellen. Dergleichen liegt mit fern. Es sei nur deswegen herausgehoben, weil sich an dieser inhaltlichen Bestandsaufnahme die poetische Methodik Borcherts wie nirgends sonst zeigt. Sowohl Borcherts Figur Beckmann als auch Borcherts Sprache fordern die Kraft zum eindeutigen Ja und Nein. Feine Schattierungen, das sublim Abgestufte passten ihm schlichtweg nicht in die sich ihm darbietende gesellschaftliche Situation. Das eruptiv Dissonante war ihm unabdingbar. Der Kakophonie des Lebens im Jahre 1947 wird einzig der irrationale und absolute Expressionismus des Borchert’schen Wörterstakkatos gerecht:

Wir brauchen keine wohltemperierten Klaviere mehr. Wir selbst sind zuviel Dissonanz. […] Wir brauchen keine Stilleben mehr. Unser Leben ist laut. Wir brauchen keine Dichter mit guter Grammatik. Zu guter Grammatik fehlt uns die Geduld.6

Denn ebenso wie die Städte und das gesellschaftliche Leben wurde auch die Möglichkeit diskursiven Denkens zerschlagen. Systematisches Denken ist dort, wo die politischen Systeme der Vergangenheit aufgelöst und diejenigen der Zukunft noch nicht etabliert wurden, vollkommen unangemessen. Hier liegen die Wunden offen, hier liegt das menschliche Dasein so total in Trümmern, wie wenige Jahre zuvor so mancher den Krieg beschrieen hat. Borchert schrieb Trümmerliteratur.

Ein so geartetes akausales Schwarzweißdenken finden wir auch bei seinen Zeitgenossen. Heinrich Böll vertrat in seinem Essay Bekenntnis zur Trümmerliteratur eine Position in Sachen Hitler, der so mancher auch noch heute beipflichtet: […] wohin wir blicken, sehen wir die Zerstörungen, die auf das Konto dieses Menschen gehen7. Oder anders: Die Deutschen wurden ahnungslos und ohnmächtig von den Nazis überfallen. Auch hier findet sich eine klare und dabei schlichte Dichotomie: Hitler böse, Menschen gut. Ebenso dichotomisch funktioniert Draußen vor der Tür, kein Abwägen von Pro und Kontra findet sich hier, sondern eine luzide, einfache Zeichnung. Borchert malte sie auf der Grundlage seiner Gefühle, nicht seiner Ratio. So schlicht, so einfach und über die Maßen bedeutend wie im oben genannten Böll-Zitat wird Hitler, wie gesagt, auch heute noch mancherorten verstanden. Dass dieser eine Mensch es schwerlich schaffte, allein, höchstpersönlich Millionen hinzurichten, wird dabei gern übergangen. Dass eine weitläufige Akzeptanz oder zumindest ausgedehnte mentale Starre unter den Deutschen virulent gewesen sein muss, eine Lähmung, die dergleichen bedingte und proliferierte – proliferierte wie ein Kanzerogen, das für eine ordentliche Wucherung sorgt –, wird dabei ebenfalls gern ignoriert. Selbst der an die Dummheit des Nazismus verlorene Sohn – war er wirklich verloren oder lag seinem Fauxpas nicht eine in ihm a priori bedingte Affinität zum Pathologischen zugrunde? –, selbst Gottfried Benn wusste Jahre nach seiner kurzen aber heftigen Liaison mit dem Faschismus bereits 1945 ein differenzierteres Bild von den Hinter-Gründen der Katastrophe zu zeichnen:

[…] und nun ist das 5. Kriegsjahr, das düster daliegt mit Niederlagen und Fehlberechnungen, geräumten Erdteilen, torpedierten Schlachtschiffen, Millionen Toten, ausgebombten Riesenstädten, und trotzdem hört die Masse weiter das Geschwätz der Führer an und glaubt es. […] Eine mystische Totalität von Narren, ein prälogisches Kollektiv von Erfahrungsschwachen8.

Benn versteht den Hitlerismus nicht als Grund, sondern treibende Kraft, er konstatiert, dass Menschen nicht wie Maschinen aus sich heraus laufen, sondern eines Stoffes bedürfen, der sie antreibt. Daneben hebt er den Hitlerismus aus seiner verklärenden Dunkelheit heraus. Ihm ist klar: Was nicht laufen will, das harrt und steht still. Wie lang die Bremswege fahrender Züge sein können, deuten diese Zeilen allerdings auch an.


Borchert vermeidet es in Draußen vor der Tür jedoch nicht nur Lösungen anzubieten, vielmehr findet sich überall in seinem Werk ein tief wurzelndes Leiden an einer offenkundigen Unlösbarkeit. Das zeigt sich daran, dass er Beckmann einen Zirkel schlagen lässt. Ich sage deswegen, einen Zirkel schlagen lässt, weil die Figur Beckmann nicht anders kann, als sich gequält um sich selbst zu winden. Von der Elbe in die Einsamkeit gestoßen – Wer ist da? […] Hallo! Wer ist denn da?9 – wird er von einem Niemand, von einem Anderen, der ihn fortan durch die Geisterbahn des Daseins leiten wird, aufgelesen. Dieser Andere ist deswegen entpersonifiziert, ein Niemand, weil er einen Mittler vorstellt, weil vielleicht jedes Hörspiel eine Erzählerposition benötigt10 und weil Beckmann gestoßen werden muss, weil Beckmann nicht mehr allein fortschreiten kann in einem Dasein, von dem er bereits Abstand genommen hat, für das er nicht mehr die Kraft hat zu leben. Er, der Andere, wäre demnach der Trieb, das psychologische Moment, welches Beckmann mehr zwingt denn überzeugt, die lange lange Straße lang am Panoptikum der Prototypen der deutschen Nachkriegsgesellschaft entlangzudefilieren. Dass es sich bei allen Gesprächspartnern Beckmanns genauso wie bei ihm um Prototypen handeln muss, lässt sich mittelbar anhand der Beschreibung der Figur Beckmann aus dem Personenverzeichnis erschließen: Beckmann, einer von denen11, heißt es dort, und der Andere, den jeder kennt12.

Doch dieses Defilee nähert sich rasch dem Ende und dieses Ende ist der Anfang des Stücks, der Kreis schließt sich, indem er seinen Anfang findet. Beckmann ist wieder vollends auf sich selbst zurückgeworfen, der Zirkel ist geschlossen. Das Ende liegt, ebenso wie der Anfang, draußen vor der Tür und Beckmann steht dort draußen vor der Tür, weil er zu jenen gehört, für die kein Zuhause mehr da ist.13 Die letzten Rufe von ihm, die an die beiden letzten, verzweifelten, verhallenden Wörter – Heinrich! Heinrich! – aus der Schlussszene des ersten Teils des Faust von Goethe denken lassen, stellen den einen von denen, den Beckmann, in die Einsamkeit, in die er, nunmehr vollends desperat, endgültig und hoffnungslos gestoßen ist:

Warum redet ihr denn nicht!! Gebt doch Antwort! Warum schweigt ihr denn? Warum? Gibt denn keiner Antwort? Gibt keiner Antwort??? Gibt denn keiner, keiner Antwort???14

Eine ganz entscheidende Frage wird im Spiel jedoch nicht komplett übergangen, sondern nachgerade direkt gestellt. Auf der Suche nach Arbeit gelangt Beckmann in ein Kabarett, wo er sich dem Direktor als Darsteller anbietet. Dieser Direktor ist der personifizierte Wiederaufbau, eine nach vorn, in die Zukunft gewandte Figur. Sie steht also Beckmann, dessen hervorstechendste Eigenschaft das Lamento über die Vergangenheit ist, diametral entgegen. Die grundsätzliche Differenz dieser beiden Typen manifestiert sich im Symbol der unterschiedlichen Brillen. Beckmann trägt noch immer seine Gasmaskenbrille, ein Relikt aus der alten Zeit, froh ist er, überhaupt eine sein eigen nennen zu können. Ergo sieht dieser auf seiner horriblen Reise durch die deutsche Nachkriegsgesellschaft die Welt immer durch dieses Relikt, seine Brille, die Brille aus der vergangenen Zeit. Sein Blick ist der Blick aus einer untergegangenen Epoche in das Jetzt. Der Direktor kann sich dementgegen rühmen, glücklicher Inhaber von drei erstklassigen rassigen Hornbrillen15 zu sein. Er hat somit die Möglichkeit sich zu jeder Gelegenheit die passende Brille und ergo, wieder übertragen gedacht, die passende allgemeine Sichtweise von der Welt auszusuchen. Wohlstand ist hier gleichgesetzt mit Möglichkeit zum Abstand nehmen. Vergangenes wird durch Nigelnagelneues ersetzt und eröffnet infolgedessen einen ganz anderen Ausblick.

Der Ausblick, die Sichtweise der Dialogpartner ist in dieser Szene somit vollends gegensätzlich. Infolgedessen differiert auch ihre Auffassung darüber, wie das ertragene Leid thematisiert werden sollte. Beckmann trägt das Lied von der tapferen kleinen Soldatenfrau vor, was dem Direktor ganz und gar nicht zusagt. Er konstatiert dem Vortrag Beckmanns noch nicht genügende Reife, sagt, in ihm schwinge noch zu wenig Esprit16 mit. Tatsächlich liegt hinter dieser eigentlich oberflächlichen Kritik das Gefühl, etwas nicht dem eigenen Zukunftsbild entsprechendes gehört zu haben. Am Anfang der Szene forderte der Direktor:

Eine mutige, nüchterne, […] revolutionäre Jugend. […] Wir brauchen einen Grabbe, einen Heinrich Heine! So einen genialen angreifenden Geist haben wir nötig! Eine unromantische, wirklichkeitsnahe und handfeste Jugend, die den dunklen Seiten des Lebens gefaßt ins Auge sieht, unsentimental, objektiv, überlegen.17

Unsentimental, objektiv, überlegen. Nichts ist Beckmann, nichts ist sein Vortrag weniger als das. Vielmehr präsentiert er eine Wahrheit, die direkt aus seinem Bauch kommt, seine eigene, persönliche Wahrheit. Der Auffassung, nur die Wahrheit auszudrücken, hält der Direktor entgegen: Mit der Wahrheit hat die Kunst doch nichts zu tun!18 Mit der Wahrheit hat die Kunst doch nichts zu tun? Tatsächlich nicht? Ist Kunst nicht immer die Wahrheit des Künstlers? Also eine subjektive Wahrheit? Und, gesetzt den Fall, wir fänden sie dennoch in der Kunst, wie viel Wahrheit verträgt diese Kunst dann? Wie viel Wahrheit vertrug die Kunst, die den Menschen 1947 geboten wurde?

Da haben wir sie demnach endlich, eine offene kritische Frage, die es durchaus wert ist, ausführlich diskutiert zu werden. Symptomatisch für die durchgehende Absenz einer rationalen Behandlung von aufgeworfenen Problemen ist, dass auch dieser Frage in Draußen vor der Tür nicht weiter nachgegangen wird. Die Wahrheit des Direktors wird konsterniert zur Kenntnis genommen und dann allein im Fortgehen bezweifelt:

Mit der Wahrheit ist das wie mit einer stadtbekannten Hure. Jeder kennt sie, aber es ist peinlich, wenn man ihr auf der Straße begegnet.19

Irgendwo, unfassbar in den Tiefen seiner Seele verborgen schlummert bei Beckmann der Wunsch nach einer veränderten Wahrnehmung, nach einem anderen Leben. Doch vielmehr, als gierig in das sorglose Leben der anderen zu starren, so wie Beckmann gierig auf die Teller der Familie vom Oberst, seinem ehemaligen Vorgesetzten an der Front, starrt, vollbringt der Protagonist nicht. Im Selbstmitleid gefangen windet er sich qualvoll im Unverständnis seiner Umwelt, ohne dass er ihr seine Leiden verdeutlichen könnte. Erst in Borcherts Hörspiel/Schauspiel findet Beckmann, einer von denen, einer dieser zahllosen namenlosen Heimkehrer, endlich das Sprachrohr, das seine unerhörten Gefühle einer unverständigen Öffentlichkeit erhörbar machte.


Was kann uns heute ein solches Stück noch sein? Wurde die jüngere deutsche Vergangenheit nicht schon genug in den Mühlen der öffentlichen Medien oder den allgemein bildenden Schulen durchgewalkt? Offenbar nicht. Man braucht nur den Fernseher einzuschalten und sieht mannigfache, mitunter schmierige Kriegsdokumentationen, in denen Feldherren zu Mythen stilisiert und deren Leistungen und Gräuel mit wagneresker Musik unterlegt werden. Dort darf der morbide Pomp der Weltkriegszeit noch einmal über den Bildschirm stolzieren. Dort dürfen alte Haudegen ihre Erinnerungen noch einmal ausschütten und möglichst genau sagen, was die Masse der Fernsehzuschauer für wahr hält. Nichts als die Wahrheit sei das, wessen man sich dort vor sterilem schwarzen Hintergrund erinnert. Aber die Auslassung kann man mit ebenso gutem Gewissen Lüge zeihen wie die Täuschung an sich. Wolfgang Borcherts Draußen vor der Tür zeigt ein Bild, das nicht nur die heute von den Militärs gerne mit dem Begriff Kollateralschäden bezeichneten Leiden der am Krieg selbst nicht Beteiligten erfasst, sondern auch die Spätschäden, die einem Krieg unweigerlich folgen. Die vielgestaltige Entwurzelung der Menschen, die Unmöglichkeit für so viele, sich in der deutschen Nachkriegsgesellschaft wiederzufinden, transportieren die Massenmedien oft nur in unzureichendem Maße. An der Oberfläche gelöste oder unendlich schwelende Konflikte gelten als uninteressant. Doch gerade hier liegt die Stärke von Borcherts Spiel. Einen Hauch dieses Elends fassbar zu machen, vermag Borcherts Stück nämlich auch heute.

Anmerkungen

1 Borchert, Wolfgang: Draußen vor der Tür. Zitiert nach der Hörspielkompilation: Prager, Gerhard (Hrsg.): Kreidestriche ins Ungewisse. Darmstadt (1960), S. 28.

2 Pennen will ich. Tot sein. Mein ganzes Leben lang tot sein. (Ebd., S. 13).

3 Ebd., S. 13.

4 Ebd., S. 14.

5 Ebd.

6 Borchert, Wolfgang: Das ist unser Manifest. In: Ders.: Draußen vor der Tür und ausgewählte Erzählungen. Reinbek bei Hamburg (1997), S. 113.

7 Böll, Heinrich: Bekenntnis zur Trümmerliteratur. In: Ders.: Erzählungen, Hörspiele, Aufsätze. Köln/Berlin (1961), S. 342.

8 Benn, Gottfried: Block II, Zimmer 66. In: Ders.: Provoziertes Leben. Eine Auswahl aus den Prosaschriften. West-Berlin (1955), S. 160.

9 Borchert 1960, S. 14.

10 Eine These von mir, die ich an diesem Ort nicht näher begründen will und an der ich alldieweil zu zweifeln beginne, gleichwohl ich nicht ganz von ihr lassen will. Als Beispiel eines Hörspiels, das sich nur im dramatischen Modus bewegt, also keine Erzählerposition hat, und nach meinem Dafürhalten als solches versagt, ist Heinrich Bölls Bilanz von 1957. (Dieser Text findet sich z. B. in: Böll 1961, S. 265–294) Dementgegen handelt es sich bei Der Minotaurus von Dieter Wellershoff, das aus kurzen Dialogen und v. a. innerem Monolog besteht, unbestritten um große Kunst (Text in Wellershoff, Dieter: Das Schreien der Katze im Sack: Hörspiele, Stereostücke. Köln/Berlin (1970), S. 9–38).

11 Borchert 1960, S. 8.

12 Ebd.

13 Ebd., S. 9 im Prolog.

14 Ebd., S. 58.

15 Ebd., S. 32.

16 Borchert 1960, S. 35.

17 Ebd., S. 31.

18 Ebd., S. 36.

19 Ebd.