So weird!
David Lynch hat es schon wieder getan

Das amerikanische Kino lässt sich beileibe nicht auf jene Fließbandprodukte reduzieren, die die Filmindustrie in Hollywood für gewöhnlich hervorbringt. Daneben hat es immer Regisseure wie Jim Jarmusch oder Gus Van Sant gegeben, die künstlerisch ambitionierte Filme drehten. Zu den Vertretern des progressiven Autorenfilms gehört natürlich auch David Lynch, der den Traumwelten Hollywoods immer wieder seine verfilmten Albträume entgegenstellte. 2007 kam Inland Empire, sein bisher letzter Langfilm, in die deutschen Kinos. Eine Rezension.

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»Inland Empire«, Filmplakat
David Lynch (Buch/Regie): Inland Empire, Frankreich/Polen/USA 2006. (Bildquelle)

Eine Nadel holpert durch die Rillen einer Schellackplatte, ein polnisch sprechendes Paar geht auf ein Zimmer, eine weinende Frau sitzt vor einem Fernseher ohne Bild, Menschen in Hasenkostümen verkörpern das Personal einer Sitcom. Auftritt. Applaus. Einer der Hasen: What time is it? Wohlwollendes, aufrichtig amüsiertes Gelächter aus dem Off. Ein guter Witz!


Es fällt nicht leicht über Inland Empire, David Lynchs jüngsten Film, zu schreiben. Denn die einzige allgemeine Aussage, der wohl jedermann zustimmen könnte, ist, dass es sich bei ihm um einen dreistündigen Albtraum handelt. Ein verwirrendes Konglomerat aus rätselhaften Bildern und Dialogen, aus Schockmomenten und – auffällig selten – absurdem Witz. Versuche, die oft irritierenden Details zu deuten, müssen wohl vage, subjektive, allenfalls durch persönliche Gefühle gestützte Meinungsäußerungen bleiben. Nicht umsonst wird die Frage nach der Zeit gleich in einer der ersten Szenen ins Panoptikum der Absurditäten verwiesen, denn das Geschehen der nächsten Stunden lässt sich weder logisch noch chronologisch vollständig fassen. Wovon sein Film handelt, wusste bei der Premiere im September 2006 auf der Biennale in Venedig nicht einmal Lynch selbst zu sagen.

Natürlich gibt es Motive, die dazu einladen, sich an ihnen zu orientieren, sie nachzuerzählen. Das Wichtigste an einer solchen Nacherzählung wäre jedoch die Feststellung, dass alles, was sich in Worte fassen lässt, bestenfalls zeitlich befristeten Halt gewährt. So kann man zwar (scheinbar) problemlos behaupten, dass eine von Laura Dern verkörperte Schauspielerin in Inland Empire einen Film dreht (mit Jeremy Irons als Regisseur). Da sich der Film im Film aber tief in den Hauptfilm hineinfrisst, ist es unmöglich eine Grenze zwischen diesen beiden Erzählebenen zu ziehen. Sie als hierarchisch voneinander getrennt zu begreifen, scheint unpassend. Sie schieben sich nicht über-, sondern ineinander. Dern (alarmiert): Something’s happened! I think my husband knows about you… about us. He’ll kill you… and me, he’ll… [lachend:] Damn! That sounds like a dialogue from our script! – Irons: Cut! Cut it! What’s going on? – Dern (verwirrt): What?

Die in solchen Szenen idealtypisch hervortretende Unmöglichkeit, die Ebenen des Erzählens in Inland Empire fein säuberlich voneinander zu trennen, ist ein nachgerade typischer Zug von Lynchs Filmen, der sich in den Figuren fortsetzt. Über sie zu sprechen ist fast schon unmöglich, weil immer die Ungewissheit darüber bleibt, wer sie eigentlich sind. So wird Dern im Nachspann zwar als Darstellerin von Nikki Grace und Susan Blue aufgeführt. Wo die Grenze zwischen den beiden Charakteren zu ziehen ist, bleibt jedoch vollkommen unklar. Jegliche personelle Integrität scheint aufgehoben. Die verschiedenen Rollen sind miteinander verwachsen, so wie sich der Film, der im Film gedreht wird, in den Film, der auf die Leinwand (sowohl im Film als auch im Kino, in dem wir sitzen) geworfen wird, hineingefressen hat. Eine Verschachtelung, die im Begriff ist, die Grenze zur Unverständlichkeit zu überschreiten.

Dass Lynch die Unmöglichkeit, die verschiedenen Erzählebenen seines Werks voneinander zu scheiden, derart in den Vordergrund rückt, hat den Rang einer poetologischen Aussage, wird doch die gemütliche Illusion der Fiktionalität des Leinwandgeschehens auf diese Weise gänzlich zerschlagen. Lynchs Film verweigert sich dem ästhetischen Konzept der Guckkastenbühne, das jeglichen Zusammenhang zwischen Fiktion und Realität verneint. Der Zuschauer soll sich offenbar als Teil jenes bodenlosen Abgrunds wahrnehmen, in den die Protagonisten gerissen werden. Ihm soll bewusst werden, dass jeder in sich ein dieser Albtraumwelt ähnelndes düster-unzugängliches Reich, ein Inland Empire trägt.

Die Schwierigkeiten, die der Versuch der Enträtselung seiner filmischen Inszenierungen mit sich bringt, begreift Lynch, nicht zu unrecht, als das Moment, an dem die Eigenständigkeit seiner Kunst besonders deutlich hervortritt. So grenzt er in einem Interview sein Schaffen scharf – meines Erachtens übertrieben scharf – gegen Werke wie 21 Grams (2003) von Alejandro González Iñárritu ab: Da wird doch nur eine lineare Geschichte in veränderter Reihenfolge montiert. Das ist nicht innovativ, sondern bloß eine Mode. Der wesentliche Unterschied zu Lynchs Filmen besteht tatsächlich darin, dass sich der durcheinander gewürfelte Handlungsstrang von 21 Grams am Ende problemlos linearisieren ließe. Interessanter ist an dieser ein wenig unleidlichen Art der Argumentation allerdings, dass sie sich bei genauerem Hinsehen auch gegen Lynch selbst wenden lässt. So neu ist dessen filmische Methode nämlich nicht. Luis Buñuel und Salvador Dalí haben bereits 1929 in ihrem Kurzfilm Un Chien Andalou ein Erzählverfahren verwendet, aus dessen Ergebnis sich genauso wenig ein linearer Plot extrahieren lässt und das genauso mit absoluten Metaphern arbeitet, wie er es heute zu tun pflegt. Der Umstand, dass auch Lynch nur an eine alte Tradition, nämlich die des surrealen Kinos, anknüpft, schwächt seine Position durchaus nicht. Er erhellt aber, wo er sich selbst verortet, wo er seine Wurzeln sieht.


Wer schon einmal einen Film von Lynch gesehen hat (lassen wir The Straight Story einmal außen vor), der hat es längst gemerkt: Lynch hat sich mit Inland Empire ganz gewiss nicht neu erfunden. Die szenischen Motive, das Milieu, die Erzählweise… nichts von dem ist originär. Die gleichen dunklen Flure, das gleiche düstere Hintergrunddröhnen, die gleichen absurden Dialoge, die gleiche zerfahrene Erzählweise, die blonde Frau im Zentrum des Geschehens – alles, wie man es von ihm kennt, als wollte er eine Summe seiner bisherigen Werke ziehen. Doch etwas ist hier anders: Lynch hat sich erheblich radikalisiert. Wer Lost Highway und Mullholland Drive ob des nicht mehr zu linearisierenden Plots verwirrend, abstoßend, unansehnlich fand, der wird mit Inland Empire ganz gewiss nicht warm werden. Hier gibt es nämlich nicht nur ein oder zwei mises en abyme, jene logischen Unmöglichkeiten, in denen eine Figur beispielsweise zu verschiedenen Zeiten am selben Ort gleichzeitig mit sich selbst als demselben anderen Ich spricht. Derartige Widersprüche sind in Inland Empire Legion, und sie entwirren sich nicht, sondern koexistieren – bis zu ihrer Lösung, die immer nur eine vermeintliche ist, weil sie stets neue Ungereimtheiten nach sich zieht. So greifen die zunächst isoliert stehenden Filmszenen zwar allmählich ineinander, verlieren ein Stück ihrer mystischen Qualität. Es wirkt aber, als blieben sie diesen Verknüpfungen zum Trotz auch weiterhin wie durch einen Schleier voneinander getrennt. Ein wenig Licht durchschimmert ihn, eine Ahnung wird vermittelt. Was auf der anderen Seite jedoch wirklich vor sich geht, verdunkelt dieses Licht nur – dialectica dialecticarum et omnia dialectica. Dieser Film wimmelt nur so von inhaltlichen, formalen und stilistischen Brüchen, die sich in Bildern niederschlagen, die kaum noch zu enträtseln sind. Eine hermetische Welt, deren logische Basis noch ihr selbst unzugänglich zu sein scheint.

Bezeichnend für die Radikalisierung Lynchs im Verhältnis zu Mullholland Drive oder Lost Highway ist darüber hinaus, dass der feine, oft nur implizite Humor, der bisher immer essentieller Bestandteil seiner Filme war, aus Inland Empire weitgehend getilgt wurde. Zurück bleibt das Grauen, das sich aus den Widersprüchen im Inneren der Figuren speist, das Grauen, das aus jenem seelischen Binnenreich stammt, über das sie keine Macht mehr zu besitzen scheinen. Und, so viel darf man vorwegnehmen, ein unerklärlich versöhnliches Ende.


Auch wenn man das alles bereits zu kennen vermeint… Interessant ist Inland Empire schon allein deshalb, weil das ästhetische Konzept, dem der Film aufliegt, so offen und vielschichtig ist. Das einzig Vorhersehbare in Handlung und Bild ist die Unvorhersehbarkeit. Die dialektische Logik der verfilmten Albtraumwelt, in der die Lösung jedes Widerspruchs einen neuen in sich trägt, erschließt sich nicht, ihr Plan bleibt unleserlich. Dafür schillert sie drei Stunden lang in allen denkbaren Facetten und gebiert einen Film, der nicht nur von der hervorragenden, erstaunlich vielseitig agierenden Laura Dern lebt, sondern auch von der schönen Bildsprache und dem merkwürdigen Wirklichkeitskonzept, das ihm zugrunde liegt. Von dem sehr bedenklichen Untertitel A Woman in Trouble, der irgendwo auf der abfallenden Ebene zwischen banal und lächerlich angesiedelt ist (wieder einer dieser programmatischen Stilbrüche), sollte man sich genauso wenig abschrecken lassen wie von der Aussicht, am Ende ziemlich ratlos dazusitzen. Es wirkt, als wollte der letzte Satz des Films – So weird! – über die Aporien, denen man sich beim Zusehen unweigerlich aussetzt, hinwegtrösten. Denn was man nicht verstehen kann, kann man auch nicht missverstehen.

Inland Empire – äußerst sehenswert.