Das Apollinische und das Dionysische
Nietzsches Gegensatzpaar im antiken Mythos

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Die Arbeit nähert sich dem antiken Mythos von Apollon und Dionysos anhand literarischer Quellen. Der Eigenschaftengegensatz, den Friedrich Nietzsche den beiden Göttern in seiner Geburt der Tragödie zuschreibt, wird anhand der Ergebnisse kritisch überprüft.

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1 Einleitung

Neujahr 1872 erschien Friedrich Nietzsches ästhetische Betrachtung Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Zentral für sein Werk ist der von ihm aufgestellte Gegensatz zwischen apollinischem und dionysischem Kunstverständnis. Angelehnt hat er diese von ihm geformten Termini an zwei Götter des antiken Mythos: Apollon und Dionysos. Nietzsche:

An ihre [der Griechen] beiden Kunstgottheiten, Apollo und Dionysus, knüpft sich unsere Erkenntnis, dass in der griechischen Welt ein ungeheurer Gegensatz, nach Ursprung und Zielen, zwischen der Kunst des Bildners, der apollinischen, und der unbildlichen Kunst der Musik, als der des Dionysus, besteht1.

Seine Untersuchung des Entstehens, der Eigenart und des Untergangs der griechischen Tragödie baute Nietzsche auf der philosophischen Grundannahme auf, dass nur als ästhetisches Phänomen das Dasein der Welt gerechtfertigt ist.2 Mittel- und Ausgangspunkt seiner Betrachtung war demnach die Kunst. Da er in seinem Werk den dionysischen Charakter der Kunst immer höher als den apollinischen bewertet3, gipfelt seine Betrachtung folgerichtig in einer Apologie der Musik Richard Wagners als künstlerischer Ausdruck, der der ekstatischen Urkraft des Dionysischen, wie Nietzsche es verstand, gemäß erscheint4.

Die ausgesprochen rege Aufnahme von Nietzsches Text in Künstlerkreisen und die immense Wirkung sowohl auf bildende Kunst als auch auf Literatur lassen Nietzsches Text heute als allemal gerechtfertigt erscheinen, wenngleich Fachkollegen seiner Zeit – Nietzsche war Altphilologe – seinen Interpretationen mitunter aufs Schärfste widersprachen. So finden wir zum literarischen Werk eines Thomas Mann, Hermann Hesse oder Hugo von Hofmannsthal nur dann einen adäquaten Zugang, wenn der von Nietzsche aufgestellte Gegensatz zwischen apollinischem und dionysischem Kunstverständnis in Betracht gezogen wird. Eine eingehende Untersuchung dieses Umstandes jedoch kann nicht Thema dieser Arbeit sein.5

Vielmehr soll hier der Frage nachgegangen werden, wie der Altphilologe Nietzsche überhaupt auf den Gedanken kommen konnte, aufgrund der Betrachtung des antiken Mythos von Apollon und Dionysos derartige ästhetische Ansichten zu äußern, derartige Schlussfolgerungen zum Verhältnis der beiden Gottheiten zu ziehen. Werden sich die beiden Brüdergötter tatsächlich als mit diametral entgegengesetzten Eigenschaften ausgestattete Figuren erweisen oder sich trotz aller Gegensätze auch Gemeinsamkeiten aufzeigen lassen? Nietzsches Frage, welche aesthetische Wirkung entsteht, wenn jene an sich getrennten Kunstmächte des Apollinischen und des Dionysischen neben einander in Thätigkeit gerathen6, soll ebensowenig im Zentrum der Betrachtung stehen. Inwiefern sie im antiken Mythos tatsächlich nebeneinander traten oder sich voneinander distanzierten, welche Eigenschaften ihnen von den alten Griechen selbst zugesprochen worden sind, wird eine hier zu klärende Frage sein. Ob Nietzsche in seinem berühmten Werk nur ein gewagtes Gebäude konstruierte, um seinen philosophischen Ansichten von der Bedeutung der Musik als originären Kunstgenuss7 und Fundament des Weltverständnisses Vorschub zu leisten, und ob die Kritik seiner zeitgenössischen Altphilologenkollegen in ihrer Vehemenz als gerechtfertigt angesehen werden darf8, soll schließendlich eine summarische Schlussbetrachtung ergeben.

2 Apollon

Im antiken Mythos tritt Apollon als Sohn der Leto und des Zeus auf. Leto gebar ihn und seine Zwillingsschwester Artemis, Schützerin der Geburten und Göttin der Jagd, auf der Insel Delos. Zuvor wurde sie von der eifersüchtigen Hera, Gattin des Zeus, die auf diese Weise die Geburt verhindern wollte, durch die ganze griechische Welt gejagt.9 Bei Kallimachos wird erstmals der Umstand erwähnt, dass Leto nicht auf festem Land gebären durfte, und sich deswegen nach Delos begeben habe, die ursprünglich eine schwimmende Insel gewesen sei.10 Auch in Ovids Metamorphosen findet sich diese Eigenschaft der Insel Delos noch:

Weltverbannte war sie [Leto], bis zur Schweifenden Delos aus Mitleid
Sprach: Fremd irrst du zu Lande umher, wie ich in den Wellen!
Und eine schwankende Stätte ihr bot.11

Apollon wird als strahlender jugendlicher Gott beschrieben, dessen wichtigste Attribute die Leier sowie Pfeil und Bogen sind. Er ist der Gott der Reinheit, der Jugendlichkeit und des Maßes, wird mitunter gar dem Sonnengott gleichgesetzt.12 Dabei, so betonte Erika Simon, beruhe diese Gleichsetzung auf einer geistigen Analogie. Apollon teilt mit dem himmlischen Licht die Reinheit13, also die Reinheit im Denken und Verhalten. Walter Burkert äußerte, dass die griechische Kultur ihr Gepräge durch die Identifikation Apollons mit diesen überhöhenden Eigenschaften erhalten habe14 und Martin P. Nilsson spricht von Apollon gar als dem griechischsten aller Götter15. In gleicher Weise redet Nietzsche in Die Geburt der Tragödie von der Weihe des schönen Scheins16, die Apollon jederzeit umgebe, und ordnet ihm ferner jene maassvolle Begrenzung, jene Freiheit von den wilderen Regungen, jene weisheitsvolle Ruhe des Bildnergottes17 zu.

Tatsächlich finden wir diese überhöhende Darstellung des hell strahlenden Gottes voll Schönheit und Ebenmaß auch bei Betrachtung antiker Quellen wieder. Im Homerischen Apollonhymnos wird der auftretende Apollon wie folgt beschrieben:

Aber Phoibos Apollon […]
Schreitet herrlich und hoch einher, ein Glänzen umstrahlt ihn,
Leuchtend funkeln die Füße, der trefflich gewobene Leibrock.18

Darüber hinaus bestätigt sich diese Sichtweise auf Apollon in der bildenden Kunst. Das wohl typischste und berühmteste Beispiel ist der Apoll vom Belvedere, eine Marmorstatue aus dem 2. Jahrhundert n. Chr., die allgemein als Kopie eines Bronzeoriginals der Zeit des 4. Jahrhunderts v. Chr. angesehen wird.19 Mit bartlosem Gesicht und lockigen, kurzen Haaren sowie jugendlichem, makellosen Körper tritt der Gott vor das Auge des Betrachters. In seinen Händen trug er einstmals wohl Pfeil und Bogen, die jedoch nicht mehr erhalten sind.

Das Bild dieses bis hier als Idealgestalt beschriebenen Gottes bekommt indes bei genauerer Betrachtung erste Risse. Das Auftauchen seiner allzu herrlichen Erscheinung in Verbindung mit seiner drohenden Waffe erfüllte die Götter und Menschen nämlich nicht nur mit Freude, sondern auch mit Furcht:

Götter zittern vor ihm im Palaste des Zeus, wenn er schreitet
Alle springen empor von den Sitzen, wenn er sich nähert,
Wenn seinen strahlenden Bogen er spannt20,
Der »Apoll vom Belvedere«
Abb. 1: Der Apoll vom Belvedere; römische Marmorkopie, wohl nach einem Bronzeoriginal des Leochares aus dem 4. Jhr. (Quelle)

heißt es in den ersten Versen des Homerischen Apollonhymnos. Apollon tritt also in diesem Hymnos, dessen erste Hälfte aus dem 7. Jahrhundert v. Chr.21 stammt, als Furcht erregender Gott auf. Bereits in einem älteren Text, in den ersten Versen der Ilias, finden wir ihn als eine Furcht und Verderben bringende Figur beschrieben.22 Der Apollonpriester Chryses, so heißt es dort, ging zu den Achaiern, um seine Tochter von ihnen zurückzufordern. Diese Forderung verband er mit einer eindringlichen Warnung vor der todbringenden Kraft seines Gottes Apollon: Heget Furcht vor dem Sohne des Zeus, dem Schützen Apollon!23 Da Chryses schmählich zurückgewiesen wurde, forderte er seinen Gott in einem dringlichen Gebet auf, sich für ihn zu rächen. Mit seinen Pfeilen schleuderte der rachsüchtige Apollon sodann Tod und Verderben unter die Achaier, weil sie seinen Priester beleidigt hatten.24

Die Sage um Kassandra, auf die Aischylos in seinem Agamemnon anspielt25, birgt ein weiteres Beispiel für die Hartherzigkeit des auf den ersten Blick nur als Lichtgestalt erscheinenden Gottes. Apollon neigte sich seiner Priesterin Kassandra in Liebe zu. Diese sagte dem Ansinnen des Gottes zwar vorgeblich zu, täuschte und enttäuschte ihn dann jedoch. Zur Strafe schlug Apollon sie mit dem Zwang immer die Wahrheit sagen zu müssen, die ihr jedoch fortan niemand mehr glauben sollte: Ihre Prophezeiungen verhallten seitdem als unbeachtete, verzweifelte Kassandrarufe.

Diese Zwiespältigkeit, in der uns Apollon nunmehr erscheint, provoziert natürlich die Frage danach, wie sie auszulegen ist. Um darin Klarheit zu erlangen, ist es hilfreich, das neben der Leier bedeutendste Attribut Apollons, Pfeil und Bogen, zunächst näher zu betrachten. Die Verwüstungen, welche Apollon im ersten Gesang der Ilias unter den widerspenstigen Achaiern anrichtete, werden auf von ihm abgeschossene Pfeile zurückgeführt:

Fern von den Schiffen setzt’ er sich nun und schnellte den Pfeil ab,
Und ein schrecklicher Klang entscholl dem silbernen Bogen.26

Nilsson betont in diesem Zusammenhang den Umstand, dass eine in vielen Völkern verbreitete Auffassung zu finden sei, dass Krankheiten durch unsichtbare Pfeile verbreitet würden.27 Als Gott der Jagd, so Nilsson weiter, dürfe Apollon aufgrund seiner Waffe keinesfalls gedeutet werden. Tatsächlich übernimmt seine Schwester Artemis, die ebenfalls Pfeil und Bogen als Attribute mit sich führt, diese Aufgabe. Kann Apollon nun aber Krankheit hervorrufen, so besitzt er in Entsprechung dazu auch die Möglich- und Fähigkeit, diese zu heilen. Robert Muth bezeichnet diese Vereinigung ambivalenter Eigenschaften als Kontrastharmonie28, womit zum einen die harmonische Einheit des Gottes wiederhergestellt ist und zum anderen eine weitere bedeutende Eigenschaft Apollons ans Licht tritt: Apollon war, bis ihm sein Sohn Asklepios diese Position streitig machte, im antiken Mythos auch Heilgott.

In seiner Funktion als Heilgott wiederum tritt eine weitere Eigenschaft Apollons zutage: Er ist der Gott der Orakel, der Gott der ekstatischen Mantik. Da Krankheiten als Befleckung, als Verunreinigung aufgefasst wurden, galt es zunächst in Erfahrung zu bringen, wie die Bürde der Krankheit erworben wurde, um sie schließlich entsühnen zu können.29 Das Wissen über die Ursachen einer Verunreinigung aber wurde bei den zahlreichen griechischen Orakeln eingeholt, wie sie in Delphi oder Dodona existierten. Insofern also ist die Eigenschaft Apollons als weissagender Gott mit der als Heilgott verknüpft.

Das berühmteste Orakel Apollons, ja das berühmteste Orakel der griechischen Ökumene in der Antike überhaupt ist das zu Delphi. Oft ist betont worden, wie wesentlich Delphi für die Verbreitung des Apollonkultes in der gesamten antiken griechischen Lebenswelt war. Diese Bedeutung beruhte vornehmlich auf seiner Funktion als Orakel, das für gewöhnlich vor der Neugründung einer Kolonie befragt wurde. Glückte dann diese Neugründung, ist es nur zu verständlich, dass der Gott, welcher vermittels seiner Seherin, der Pythia, für die Kolonie gesprochen hatte, dort zu hohen Ehren kam. Doch auch die Pythien, gymnische und musische Spiele, welche in Delphi im Vierjahresrhythmus stattfanden, trugen, wenngleich sie nie die Bedeutung der Spiele von Olympia erlangten, zur Popularität Delphis bei. So konnte Delphi zum Nabel, zum Mittelpunkt der Welt in der griechischen Vorstellung heranreifen.30

Der Gründungsmythos des delphischen Orakels, wie er im Homerischen Apollonhymnos zu finden ist, verdeutlicht auf anschauliche Weise, wie eng die Gründung von Delphi mit der Idee der Entsühnung verknüpft war. Apollon errichtete am Fuß des Parnass in Krisa31, das mit Delphi gleichzusetzen ist32, einen Tempel: Stätte der Weissagung werd er den Menschen33. In der Nähe bei einer Quelle aber hauste eine Drachin, Typho, die Unheil über die Umgebung brachte. Apollon tötete sie.34 Walter F. Otto deutete diesen Vorgang so, dass Apollon sich selbst von der Befleckung reinigen musste, die er durch den Mord an dem Untier bekommen hatte.35 An diesem Beispiel sieht man schön, wie Entsühnung und Mantik im Gründungsmythos Delphis eine enge Verbindung eingehen.

Auch in der oben erwähnten Episode im ersten Gesang der Ilias tritt Apollon sowohl als Seher als auch als bestrafender Gott auf, dessen Weisheit die Befleckung durch die Beleidigung seines Priesters Chryses entsühnen und dadurch die Strafe, welche er selbst über die Achaier verhängt hatte, beenden hilft. Die Achaier wenden sich im Gegenzug an den Seher Kalchas, der aus dem Deuten des Vogelflugs den Grund für die schreckliche Strafe gegenüber ihnen eruiert. Dieser aber erlangte seine Sehergabe vom selben Gott, denn er sieht den Grund für die todbringenden Krankheiten, wie er sagt, Kraft seiner Wahrsagekunst, der Gabe Phoibos Apollons.36

Ein weiteres, noch berühmteres Beispiel für die entsühnende Kraft des Sohnes der Leto ist die Geschichte des Atriden Orestes. Orestes, Sohn Klytaimestras und Agamemnons, tötete seine Mutter und ihren Geliebten Aigisthos, nachdem er erfahren hatte, dass die beiden zuvor seinen Vater ermordet hatten. Gleichwohl beruht diese Tat nicht allein auf Rachegedanken Orestes’, sondern auch auf einer unmissverständlichen Aufforderung Apollons. Darum klagt Orestes bei Aischylos:

Apoll,
Der pythische Seher, war es, der mir prophezeit’,
Vollbring ich dies, so sei ich ohne Schuld und Pein.37

Bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass Apollon erneut als rächender, unnachsichtiger Gott auftritt und nicht allein als Sehergott – ebenso wie in der Kassandra- und der Chryses-Episode. Sobald Orestes den Muttermord vollbracht hatte, überkam ihn die Furcht vor den Erinnyen, den griechischen Rachegöttinnen, die alle Mörder verfolgen und die er bereits nahen sah. Bei Aischylos beruhigte ihn allerdings der Chor, indem er versicherte, Apollon werde ihn entsühnen:

Entsühnung wirst du finden. Wenn Apollon dich
Berührt, so macht er dich von diesen Qualen frei.38

Dass Orakel des Apollon eine so überaus große Bedeutung erlangten, hängt meines Erachtens auch mit der Tatsache zusammen, dass er mit der Fähigkeit zu prophezeien vom höchsten Olympier, von Zeus, persönlich begabt wurde.39

Apollon, so dürfte bis hier deutlich geworden sein, ist durchaus nicht so einfach zu greifen, wie Nietzsche es in seiner Schrift über die Entstehung und das Wesen der griechischen Tragödie ansetzte. Am schönsten wird diese Vielschichtigkeit des Gottes vielleicht im schon mehrfach erwähnten ersten Gesang der Ilias ausgeführt. Taucht Apollon am Anfang des Gesangs noch als rächender, mit Pfeil und Bogen bewaffneter Gott auf, erscheint er an dessen Ende in einer vollkommen anderen Funktion – als Gott der Musen. Beim Göttermahl auf dem Olymp fehle es

Nicht des Saitengetöns von der herrlichen Leier Apollons,
Noch der Musen, die wechselnd erhoben die lieblichen Stimmen.40

Gesittet, maßvoll und kunstliebend tritt Apollon an dieser Stelle auf. Wie gut die Eigenschaft des Leier spielenden Gottes zum Bogen tragenden Apollon passt, demonstriert Otto durch einen erstaunlichen Gedanken. Sowohl Bogen als auch Leier, so Otto, seien mit Tierdärmen bespannt und der Bogen – er verweist hier auf den vierten Gesang, Vers 125 der Ilias – töne ebenso wie die Leier. Beide senden ein Geschoß nach dem Ziel, fährt Otto fort, hier den treffenden Pfeil, dort das treffende Lied. Pindar sieht den echten Sänger als Schützen, dessen Lied ein Pfeil ist, der nicht fehlt.41 In den Worten Ottos erkennen wir das wieder, was Robert Muth mit, wie oben zitiert, Kontrastharmonie bezeichnete. Der wütende Gott, erweist sich über eine kühne Verknüpfung seiner verschiedenen Eigenschaften als Künstlergott.

Ein letztes Eigenschaftenbündel, das eng mit der mythischen Figur Apollon verknüpft ist, muss an dieser Stelle noch kurz besprochen werden: Ordnung, Sitte und Maß. Wie bereits oben erwähnt erlangte Delphi als gesamtgriechisches Heiligtum immense Bedeutung. Zum Gott der Ordnung ist Apollon auch durch sein Orakel geworden. Als Kleisthenes 508/07 v. Chr. die Bürgerschaft von Athen in zehn Phylen einteilte und für jede dieser Phylen einen Phylenheroen suchte, legte man der Pythia von Delphi eine Liste mit hundert Namen vor. Diese wählte unter den vorgelegten Namen zehn aus, die die entsprechende Funktion anschließend zugesprochen bekamen.42 Apollon bestimmte somit indirekt, vermittelt durch sein Orakel, die gesellschaftliche Ordnung Athens. Dieser Vorgang ist nicht der einzige, der das Orakel von Delphi und somit Apollon in direkten Kontakt mit Gesetzgebungsprozessen brachte.43 Im Atridenmythos kommt es am Ende Der Eumeniden von Aischylos vor der endgültigen Entsühnung des Muttermörders Orestes zu einer umfangreichen Gerichtsverhandlung44, bei der Apollon für Orestes plädiert. Vertrat der Sohn der Leto zuvor auch eine Position der Rache, so sorgt er nunmehr für einen Ausgleich, der den Generationen währenden Fluch vom Haus der Atriden nehmen sollte. Zwei am Tempel von Delphi eingemeißelte Sprüche verdeutlichen die hinter diesen Mythen stehende Philosophie des rechten Maßes. Es sind medèn ágan, nichts im Übermaß, und gnôthi sautón, erkenne dich selbst. Der Mensch möge also seine Grenzen (er-)kennen, sich darüber klar werden, dass er nur Mensch und nicht Gott ist, so wie er in allen Angelegenheiten zu versuchen habe, das rechte Maß zu finden.45

Apollon erweist sich nach dieser Betrachtung zwar durchaus als der reine, strahlende Gott, wie ihn Nietzsche in der Eigenschaft als apollinischen Gott sehen wollte. Doch erscheint diese glatte Reinheit als eine, die an manchen Stellen Risse aufweist. Der Gott des Maßes kann ein wütender Gott sein (Rache für Chryses), genau so wie er sich als triebhaft, durchaus menschlicher (Verführung Kassandras und die Rache an ihr) herausstellen kann. Franz Bömer kritisiert in seiner Untersuchung über die Religion der Sklaven in Griechenland und Rom ein übermäßiges Lob Apollons und seiner positiven Eigenschaften folgerichtig vehement. So sei er durchaus kein göttlicher Menschenfreund, bei dem die Unglücklichen, die Geschlagenen und die Heimatlosen Trost fanden.46 Sklaven, so Bömer, hätten an der Religion der gesellschaftlichen Ordnung47 nicht teilgehabt. Die Wirklichkeit im antiken Griechenland habe anders ausgesehen, als die seit der Zeit des Klassizismus verbreitete Apollonschwärmerei48 es vortäusche.

3 Dionysos

Dass Dionysos als Gott in den griechischen Götterpantheon einging, darf zunächst verwundern. Ist sein mythischer Vater auch Zeus, der höchste Olympier, so wurde er doch von einer sterblichen Mutter, Semele, Tochter des thebanischen Gründerkönigs Kadmos, geboren.49 Diese äußerte ihrem Liebhaber Zeus gegenüber den Wunsch, ihn in seiner wahren Gestalt sehen zu dürfen. Ein Wunsch, den Zeus ihr nicht abschlug und der ihr zum Verhängnis werden sollte, denn

den [Dionysos] hat
In der Niederkunft Nöten,
Als genaht sich Zeus’ Donner,
Noch vor der Zeit geboren dann
Seine Mutter; doch selbst ließ
Sie ihr Leben im Blitzschlag.50

Zeus nahm seinen wegen des Todes der Mutter vor der Zeit geborenen Sohn und nähte ihn sich in den Schenkel, wo er ihn austrug. Nach seiner zweiten Geburt übergab er das Kind Nymphen, die ihn aufzogen und später zu seinem Gefolge wurden.51 Dionysos’ Mutter aber ging unter die Olympier ein, unter denen sie Thyone genannt wurde.52

Nietzsche sieht in seiner Geburt der Tragödie das wesentliche Element des Dionysos durch die Analogie des Rausches53 erfasst. Der Mensch finde sich singend und tanzend in einer höheren Gemeinsamkeit54 wieder: als Gott fühlt er sich, er selbst wandelt jetzt so verzückt und erhoben, wie er die Götter im Traume wandeln sah.55 Ferner setzt er ihn ausdrücklich in einen Gegensatz zu Apollon, wenn er schreibt: Das Uebermaass enthüllte sich als Wahrheit […]. Und so war, überall dort, wo das Dionysische durchdrang, das Apollinische aufgehoben und vernichtet.56 Dadurch dass dieser Gott sich nicht an das medèn ágan, nichts im Übermaß, Apollons halte, erscheint er als Gegenspieler seines Halbbruders.

Auch Euripides beschreibt in seinen Bakchen den Schwarm für Dionysos als einen Rausch im Tanz:

Gleich tanzt das Land – alles – im Chortanz –
Bromios ja ist, wer die Schwärmenden führt57.
Dionysos auf der Schale des Makron
Abb. 2: Dionysos mit Thrysos, Rebzweig und efeubekränztem Haupt; Innenbild der Schale des Makron, um 480 (Quelle)

Dass dieser Tanz von großem Lärm begleitet wurde, soll der zu Dionysos gehörende Beiname Bromios, der Brausende, Lärmende, ausdrücken. Das Gefolge von Dionysos bestand zunächst nur aus Mänaden, rasenden Frauen, später auch aus Satyrn.58 Die Ekstase erlangte nie eine Einzelperson, sie fand immer in der Masse statt.59 Nietzsche beschreibt den Menschen im rauschhaft, ekstatischen Zustand als jemanden, der sich als Gott fühlt60. Schaut man sich die Begriffe Ekstase und Enthusiasmus genauer an, ergibt sich Erstaunliches. Die Ekstase ist das Heraustreten des Menschen aus sich selbst. Enthusiasmus jedoch bedeutet das hineintreten einer Gottheit, die Gotterfülltheit. Aus dieser Beobachtung schließt Simon: Man könnte sagen, die Mänaden rasen nicht selbst, sondern der rasende Dionysos tue dies in ihnen.61 In diesem Zusammenhang lässt sich auch die Omophagie, das Zerreißen von wilden Tieren mit anschließender Verspeisung des rohen Fleischs, welche im Zuge des dionysischen Ritus stattfinden konnte, sehen. Nachdem das Tier verspeist wurde, schlang man sich das verbliebene Fell, ein typisches Attribut des Dionysos und seines Gefolges, um die Schultern.62 Nilsson setzt das verschlungene Tier mit dem Gott Dionysos selbst gleich, sodass die Rasenden, welche zum einen das Fleisch des Tiers verspeisen und sich zum anderen mit dessen Fell kleiden, sich mit Dionysos nicht nur identifizieren, sondern auch mit ihrem Gott eins werden.63

Das dionysische Rasen spielte sich für gewöhnlich in der Natur ab. So heißt es von Dionysos in einem Homerischen Hymnos, er zog dann gern von Gehöft zu Gehöft durch die Wälder, mit Efeu / schwer behangen und Lorbeer.64 Diese Umzüge muss man sich nun aber begleitet von dumpfdröhnender Pauken Ton65 und Flötenspiel66 denken. Instrumente, die den bereits erwähnten ekstatischen Tanz noch angespornt haben dürften. Ein weiteres wichtiges Attribut des Gottes war neben Efeu, Flöten und Pauken der Thyrsos, ein von Efeu umwundener Stab mit Pinienzapfen als Krone.67 Er diente den Mänaden unter anderem dazu, sich allzu aufdringlicher Männer zu erwehren.68 Bei Euripides erscheint er geradezu als Zauberstab: So quelle beim Schlag mit dem Thyrsos gegen einen Fels Wasser aus selbigem hervor, während vom Stab selbst Honigströme herabflössen.69

Wie weit die Trance der Mänaden gehen konnte, versuchte Euripides in den Bakchen anhand der Geschichte des Pentheus und seiner Mutter Agaue zu zeigen. Pentheus, Herrscher von Theben, der dem Dionysoskult gegenüber feindlich eingestellt war, verfolgte die den Kult ausübenden Personen und ließ sogar – was er nicht erkannte – Dionysos selbst festnehmen. Dieser überredete ihn dann, sich das Treiben der Mänaden im Wald, von dem Pentheus zugleich gebannt und abgestoßen war, mit ihm zusammen anzusehen. Bei diesem Angebot Dionysos’ handelte es sich jedoch um eine Falle, und so wurde Pentheus von den wütenden Mänaden zerrissen, allen vorweg von seinen Schwestern Ino und Autonoe und seiner Mutter Agaue. Agaue, vom Wahn beseelt, einen Berglöwen erlegt zu haben, griff sich das abgerissene Haupt ihres Sohnes und steckt es sich auf ihren Thyrsosstab.70 So kehrte sie nach Theben zurück, freudig ausrufend:

Ich bring vom Gebirg
Ins Haus eine Ranke am Stab, neugeschnitten,
Ein glückhaft Beutetier!71
Dionysosmaske auf einer Halsamphora
Abb. 3: Der hässliche Dionysos; Maske des Gottes auf einer Halsamphora, um 530/520 (Quelle)

Agaue verstieg sich gar zu der Forderung, das vermeintliche Berglöwenhaupt an die Schlossfassade, an die Triglyphen, nageln zu lassen72, bis ihr Vater Kadmos sie endlich zur Raison brachte73.

Der hier unverhohlen auftretende dionysische Rausch ist eng mit dem bekanntesten Attribut des Gottes verbunden: dem Wein. Der Wein ist der bedeutendste Verweis darauf, dass Dionysos Vegetationsgott war, wobei er nicht den Ackerbau, sondern vielmehr Baumzucht und eben Weinbau verantwortete.74 Hieraus wird die Tendenz, die Dionysien in der wilden Natur, im Wald zu begehen, verständlicher. Denn so können sich die Anhänger von ihnen im eigentlichen Element des Gottes geborgen wissen. Aber auch die Tatsache, dass der Dionysoskult mit dem Symbol des Phallus eine Verbindung eingegangen ist, erwächst aus der Eigenschaft des Gottes als Vegetationsgott. Der Phallus ist nicht nur Objekt der Erregung zur Steigerung des dionysischen Rasens, sondern auch Zeichen der Fruchtbarkeit, die wiederum unabdingbar zu einem Vegetationsgott zu gehören hat.75

Nilsson äußerte die Ansicht, der Wein diene nicht zur Erregung der dionysischen Ekstase, sei schlicht Element des Ritus um Dionysos.76 Eine Ansicht, die meines Erachtens ein wenig abwegig scheint. So konstatiert Burkert entgegen der Meinung Nilssons, dass der Weinrausch als Einbruch eines Göttlichen gedeutet77 worden sei, was zugleich bedeutet, dass er eng mit dem dionysischen Enthusiasmus verbunden gewesen ist. In den Bakchen erscheint der Wein als Getränk, das das Dasein des Menschen verbessere:

der Semele Sproß, erfand – an Wert
Ihr gleich – der Rebe feuchten Trank, führt’ ein ihn bei
Den Menschen, der die armen Sterblichen befreit
Vom Leid, wenn sie sich laben an des Weinstocks Saft,
Schlaf ihnen schenkt, Vergessen aller Mühn des Tags78.

Trinkt man Wein, so klingt es hier, dann trinkt man Lethe. Doch der Wein ist vom Gott des Weines, Dionysos, der Semele Sproß, nicht nur erfunden worden, sondern nachgerade der Gott selbst. Man spendet ihn den Göttern, ihn, den Gott als Wein79, heißt es einige Verse später. Dionysos wird in diesem Vers mit dem Wein identifiziert, was im Umkehrschluss bedeutet, dass er mit dem Wein konsumiert wird. Diese Annährung an den Gott, dieses Erfülltwerden vom Gott korrespondiert mit den oben erwähnten Gebräuchen, sich nach der Omophagie mit dem Fell des Tiers zu kleiden, das, ebenso wie hier der Wein, mit ihm gleichgesetzt wurde. Erscheint der Wein aber als derart essentielles Mittel zum Erreichen des Enthusiasmus, der eng mit der Ekstase verbunden ist, lässt sich die Ansicht Nilssons, er diene keineswegs dem Rausch, nicht mehr halten.

Ebenso wie Apollon wird Dionysos auch als Orakelgott beschrieben, wenngleich seine Bedeutung in dieser Funktion als untergeordnet angesehen werden darf. So weist Nilsson darauf hin, dass nur ein einziges Orakel des Dionysos in Griechenland bekannt sei, zu Amphikleia in Phokis.80 Gleichwohl findet sich in einer Schrift, die Aristoteles zugeschrieben wird, die Erwähnung, dass die Priester in einem Dionysosorakel Thrakiens, nach starkem Weingenuss geweissagt hätten.81 Der Weinrausch in Verbindung mit der Eigenschaft als Orakelgott aber weist auf die ekstatische Mantik der Pythia, der weissagenden Priesterin des Apollon in Delphi. Der Rausch, der bei Apollon nicht zu dessen eigentlichem Element zu zählen ist, ermöglicht hier wie dort die Verbindung mit dem Gott, der dem Seher die Wahrsprüche eingibt. Die Verbindung von Rausch und Mantik sah auch Euripides:

Ein Seher ist der Gott [Dionysos]. Bakchisch verzückt sein und
Voll Raserei birgt hohe Seherkunst in sich.
Denn wenn der Gott in jemands Leib ganz eingeht, läßt
Er kund die Zukunft tun die Wahnbefallenen.82

In Delphi, eigentlich die Domäne Apollons, war Dionysos der zweitwichtigste Gott neben dem Sohn der Leto. Sein, des Dionysos, Grab befand sich im adyton, dem Allerheiligsten des delphischen Apollontempels.83 Überhaupt ist die Arbeitsteilung der beiden Götter in Delphi bemerkenswert. Dionysos blieb in den drei Wintermonaten allein Herrscher über Delphi, während Apollon sich zu den Hyperboreern zurückzog, einem seligen Volk, das mit den Einwohnern des Elysions, dem Land der Seligen in der griechischen Mythologie, gleichgesetzt wurde.84 Die Beheimatung beider Götter an diesem Ort wurde durch Figurengruppen in den Giebeln des Apollontempels aus dem 4. Jahrhundert versinnbildlicht: Auf der nach Osten gewandten Seite des Tempels erscheint die apollinische Trias, also Apollon zusammen mit Schwester Artemis und Mutter Leto. Auf der anderen Dionysos in Begleitung seines Gefolges.85 Burkert interpretiert diese Verzierungen als Darstellung von Gegensätzen: im Osten, auf der Seite Apollons, geht die Sonne auf, im Westen, auf der Seite des Dionysos, geht sie unter.86 Doch wird hier auch eine enge Verknüpfung der Brüdergötter symbolisiert. Noch heute kann man sich die Reste der Figurengruppe ansehen, die einst im Tympanon des Westgiebels stand. Teile der Dionysosfigur sind erhalten. Sie trägt eine Leier im Arm. Dionysos führt also das Instrument mit sich, das zumeist und typischerweise Attribut Apollons ist. Kaum ein Bild vermag es deutlicher zu zeigen, wie sehr die Gegensätze, symbolisiert durch diese beiden Götter, sich hier in Delphi relativiert haben. Vielleicht soll die von Dionysos getragene Leier symbolisieren, dass er in Abwesenheit Apollons dessen Machtbefugnis über diesen Ort bis zu dessen Rückkehr innehat.

Die Herrschaft des Dionysos über Delphi während der Abwesenheit des Sohnes der Leto schlug sich auch im Konkreten nieder. Die Thyiaden, die Mänaden Delphis, feierten auf dem winterlichen Parnass ihren Gott mit dionysischen Tänzen.87 Nicht mehr der Paian, der Kultgesang Apollons, gespielt mit der Leier, dem Instrument des Gottes, sondern der Gesang von Dionysos, der Dithyrambos mit Pauken und Flöten, ertönte nun über dem Orakel.

Diese enge Verbindung der beiden Götter hat gar dazu verleitet, die Eigenschaften von ihnen zu vertauschen. Roux zitiert Aischylos und Euripides, die Apollon als Gott des Efeus, als Bacchanten, als Seher und Dionysos als Apollon Paian mit der Leier identifizierten.88 Hervorzuheben ist tatsächlich der Umstand, dass die beiden Götter trotz vieler Differenzen auch Berührungspunkte aufweisen. Beide werden als Sehergötter ausgewiesen, wobei ihnen die ekstatische Mantik gemeinsam ist, wenngleich der Rausch eigentlich nur für Dionysos als originär angesehen werden darf. Apollon kennt ekstatische Ausbrüche als Gott zwar nicht, tritt uns aber auch als wütender Gott gegenüber, wie oben bereits mehrfach gezeigt wurde. Dieselbe Wut kann auch Dionysos seinen Feinden gegenüber zeigen, wenngleich diese Raserei bei den olympischen Göttern verbreitete Allüre ist und nicht spezielles Gebaren der beiden Brüdergötter. So lässt Dionysos den Frevler Pentheus von seinem tobenden Gefolge zerreißen. In einem Homerischen Hymnos findet sich die Erzählung, wie der Gott von Räubern entführt, in Fesseln gelegt und wie ein Sklave verschifft wird.89 Dionysos ließ sich allerdings nicht von den Fesseln der Menschen binden. Nachdem sie ihm abgefallen waren, wuchsen Efeu und Weinranken über das ganze Schiff und der Gott verwandelte sich in einen Löwen, der grausame Rache an seinen Entführern nahm.90

Des Weiteren fällt auf, dass sowohl Dionysos als auch Apollon musische Eigenschaften haben. Äußern sich diese auch in entgegengesetzten Stilen, dem des Paian und dem des Dithyrambos, dem der Leier und dem der Flöte, kann dieser Umstand nach meinem Dafürhalten dennoch als Gemeinsamkeit, als Berührungspunkt bei oberflächlicher Verschiedenheit angesehen werden. Otto hebt die Anziehungskraft, die die beiden Götter verbindet, mit emphatischen Worten hervor, die übrigens ein wenig an Nietzsche erinnern:

Sie [Apollon und Dionysos] haben sich angezogen und gesucht, weil ihre Reiche, trotz der schroffsten Gegensätzlichkeit, doch im Grunde durch ein Band verknüpft sind. […] Apollon mit Dionysos, dem trunkenen Reigenführer des Erdkreises, das ist das ganze Ausmaß der Welt.91

Natürlich klingen dergleichen Worte, zumal sie mit so viel Pathos geschrieben sind, nicht sonderlich wissenschaftlich – diese Art der Diktion dürfte auch dazu geführt haben, dass Nietzsche bei seinen Fachkollegen mit seiner Analyse der griechischen Tragödie vornehmlich auf Ablehnung stieß. Doch denke ich oben gezeigt zu haben, dass bei aller Verschiedenheit genügend Berührungspunkte vorhanden sind, die es nicht als allzu gewagte Konstruktion erscheinen lassen, wenn Otto uns sagen will, dass sich fand, was immer schon zusammengehörte. Einmal möchte ich hier noch das Muth’sche Wort von der Kontrastharmonie92 bemühen, das er für die sich widersprechenden Eigenschaften Apollons verwendete. Vielleicht ermöglicht der offensichtliche Kontrast von Eigenschaften, die Apollon in seiner Widersprüchlichkeit als todbringenden und heilenden Gott harmonisch erscheinen lassen, einen Zugang zu der bemerkenswerten Verbindung, die die beiden Götter in Delphi eingingen. Als ambigue, sehr verschieden haben sich Apollon und Dionysos hinsichtlich ihrer Eigenschaften in dieser Arbeit erwiesen. Denkt man sich nun aber ihre Verbindung in Delphi als Ausgleich unterschiedlicher Merkmale, erweist sich gerade an diesem für die griechische Ökumene hochbedeutenden Ort eine neue, tiefer greifende Harmonie, als sie der Gott der Reinheit und des Maßes, Apollon, für sich genommen repräsentieren könnte.

4 Schlussbemerkung

Nietzsche macht die Vereinigung der beiden hier besprochenen Götter nicht an ihrem gemeinsamen Auftreten in Delphi, sondern an der griechischen Tragödie fest. Er sieht die Tragödie zwar als ursprünglich von Dionysos und seinen Dithyrambenchören herrühren, doch werde sie erst in ihrer Verbindung mit den rationalen Kräften des Apollinischen zu dem, als das sie uns heute erscheint:

So wäre wirklich das schwierige Verhältniss des Apollinischen und des Dionysischen in der Tragödie durch einen Bruderbund beider Gottheiten zu symbolisieren: Dionysus redet die Sprache des Apollo, Apollo aber schliesslich die Sprache des Dionysus: womit das höchste Ziel der Tragödie und der Kunst überhaupt erreicht ist.93

Dass die rauschhafte Kraft der dionysischen Chöre in der klassischen griechischen Tragödie gezähmt wurde, erwähnen auch andere Autoren. So spricht Robert Muth davon, dass die berühmten attischen Tragödienwettkämpfe zwar aus dionysischen Kulten hervorgegangen seien, die Maskerade jedoch nur noch ein schwaches Abbild der Ekstase bot. Der Enthusiasmus war sozusagen urbanisiert.94 Dass Nietzsche diese gezähmte Kraft des Dionysischen in der attischen Tragödie erkannte, spricht für ihn. Seine Auslegung dahingehend, dass diese Zähmung und nachfolgende Überbetonung des Apollinischen zur Décadence der Tragödie und des Griechentums geführt habe, ist allerdings weniger gut belegbar.

Wo die vielen Verschiedenheiten, aber auch Gemeinsamkeiten von Apollon und Dionysos lagen, habe ich in Kap. 3 bereits herausgestellt. Die sich aufzeigenden Berührungspunkte lassen es als klar erscheinen, wie Nietzsche auf den Gedanken kam, eine Verbindung der beiden oberflächlich betrachtet gegensätzlichen Götter zu wagen. Die Eigenschaften der beiden mythologischen Figuren, sind von Nietzsche allerdings übergeneralisiert worden. Gerade bei Apollon trifft es nicht zu, dass er nur der mäßige und beherrschte Gott der Ordnung und Sitte ist, wie ich in Kap. 2 ausgeführt habe. Nietzsches Verdienst ist, dass der Blick auf Apollon nicht mehr durch stereotype Huldigungen seiner Eigenschaften verstellt wird. Die geäußerte Kritik an den Gedanken Nietzsches beruht wohl zum einen auf der unwissenschaftlichen Methode, mit der er sich seinem Gegenstand näherte – sein Text schwimmt nachgerade in einem von Pathos angefüllten Meer. Zum anderen schwingt hier auch die Enttäuschung darüber mit, dass das Griechentum seitdem nicht mehr als im tiefsten Wesen apollinisch gedeutet werden kann. Dionysos erscheint nun auch als Gott der Griechen, als ebenso griechischer Gott wie Apollon – Dionysos mutierte also in der Wahrnehmung der Historiker und Philologen von einem zugewanderten Stiefkind95 zum originären Bestandteil des Griechentums. So erweist sich denn im Nachineine die Kritik an Nietzsches Schrift in ihrer Heftigkeit als unbegründet, gleichwohl sie im Ansatz durchaus auch ihre Berechtigung hat.

Endet meine Arbeit so auch mit einer leichten Kritik an Nietzsches Vorgehen, muss ich allerdings darauf hinweisen, dass er das, was ich hier machte, im Grunde gar nicht wollte. Seine originäre Absicht war es nicht, eine Synopse der Mythen von Apollon und Dionysos zu schreiben. Nietzsche gab mit seinem Text vielmehr einer Kunstvorstellung Ausdruck, die ihn umtrieb und sich schließlich eruptiv an die Oberfläche seiner Überlegungen drängte. So stellte er der Geburt der Tragödie ein an Richard Wagner gerichtetes Vorwort voran, in dem er betonte, dass seine Überlegungen dem bewunderten Werk des Komponisten verpflichtet seien. Da er Wagner als Vorkämpfer seiner Ideen ansehe, wolle er es ihm auch widmen. Von der Kunst der zeitgenössischen Musik ausgehend, erläuterte er dann über den Umweg der Antike seine ureigenen Gedanken. Dass diese jedoch nicht im luftleeren Raum schweben, sondern durchaus historische Anknüpfungspunkte haben, dürfte allerdings durch meine Ausführungen ebenso deutlich geworden sein.

5 Literaturverzeichnis

5.1 Quellen

Aischylos: Die Orestie: Agamemnon, Die Totenspende, Die Eumeniden. Stuttgart (1987); [= Aischylos Orestie].

Euripides: Die Bakchen. Stuttgart (1968); [= Euripides Bakchen].

Homer: Ilias. In: Ders.: Ilias und Odyssee. Deutsch v. Johann Heinrich Voss, bearbeitet v. Hans Rupé u. E. R. Weiß. Darmstadt (1980), S. 1–472; [= Hom. Ilias].

Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. In: Ders.: Die Geburt der Tragödie, Unzeitgemäße Betrachtungen I-III (1872–1874). Nietzsches Werke: Kritische Gesamtausgabe, 3. Abt., Bd. 1. Hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Berlin/New York (1972), S. 4–152; [= Nietzsche GdT].

Ovid: Metamorphosen. Übersetzt u. hrsg. v. Hermann Breitenbach. Stuttgart (1971); [= Ovid Meta.].

Homerische Hymnen. Hrsg. v. Anton Weiher. 3. Auflage, München (1970); [= Hom. Hym.].

5.2 Darstellungen

Bömer, Franz: Untersuchungen über die Religion der Sklaven in Griechenland und Rom. Dritter Teil: Die wichtigsten Kulte der griechischen Welt. In: Akademie der Wissenschaften und der Literatur: Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse. Nr. 4. Mainz (1961), S. 243–509; [= Bömer 1961].

Burkert, Walter: Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche. Stuttgart u. a. (1977); [= Burkert 1977].

Graf, Fritz: Griechische Mythologie. München/Zürich (1985); [= Graf 1985].

Muth, Robert: Einführung in die griechische und römische Religion. Darmstadt (1988); [= Muth 1988].

Nilsson, Martin P.: Geschichte der griechischen Religion. 1. Bd. Die Religion Griechenlands bis auf die griechische Weltherrschaft. München (1955); [= Nilsson 1955].

Otto, Walter F.: Dionysos: Mythos und Kultus. 6. Auflage, Frankfurt a. M. (1996); [= Otto 1996].

Ders.: Theophania: Der Geist der altgriechischen Religion. Frankfurt a. M. (1975); [= Otto 1975].

Rosenberg, Veit: Griechische Orakel: Eine Kulturgeschichte. Darmstadt (2001); [= Rosenberg 2001].

Roux, Georges: Delphi: Orakel und Kultstätten. München (1971); [= Roux 1971].

Simon, Erika: Die Götter der Griechen. 3. Auflage, München (1985); [= Simon 1985].

Schlechta, Karl: Anmerkung zu Die Geburt der Tragödie. In: Nietzsche Friedrich: Werke. 1. Teil. Frankfurt a. M. (2000), S. 781–787; [= Schlechta 2000].

6 Bildnachweis

Abb. 1: Apoll vom Belvedere; Originalbild von Marie-Lan Nguyen auf Wikimedia Commons; Lizenz: public domain.

Abb. 2: Innenbild der Schale des Makron; aus: Simon, Erika: Die Götter der Griechen. 4., neu bearbeitete Auflage, München (1998), S. 252.

Abb. 3: Dionysosmaske auf einer Halsamphora des Antimenes-Malers; aus: Ebd., S. 240.

Anmerkungen

1 Nietzsche GdT: S. 21.

2 Ebd.: S. 11.

3 In seinem später verfassten Vorwort betont Nietzsche, dass er in Die Geburt der Tragödie versucht habe, sich dem ungeheuren Phänomen des Dionysischen (ebd.: S. 6) zu nähern. Seine fortwährenden Anwürfe gegen den Sokratismus (Vgl. hierzu z. B. ebd.: S. 85–86), den Nietzsche als eine dem Dionysischen entgegengesetzt Geisteshaltung der Ratio identifizierte und ergo mit dem Apollinischen gleichsetzte, sprechen auch für diese Gewichtung.

4 Vgl. hierzu Kap. 24 u. 25 in Nietzsches Schrift (ebd.: S. 145–152).

5 Nur zwei knappe Beispiele für die Rezeption der Gedanken Nietzsches: In Hermann Hesses Narziß und Goldmund verteilt der Autor die von Nietzsche beschriebenen Eigenschaften auf die beiden Protagonisten. Narziß repräsentiert hier das Apollinische, wohingegen sein Freund Goldmund dionysische Attribute zugesprochen bekommt. In Thomas Manns Tonio Kröger findet sich die Gegenüberstellung schon im Namen der Hauptfigur: das südlich-lebhafte Element (Tonio) als Ausdruck des Dionysischen und der auf nordisch unterkühltes Grüblertum verweisende Nachname (Kröger).

6 Nietzsche GdT: S. 100.

7 Hier war Nietzsche im Übrigen stark vom Werk Arthur Schopenhauers beeinflusst, was auch an den mitunter weitschweifigen Zitaten aus Schriften seines Vorbildes offenbar wird (vgl. ebd.: S. 101–103; siehe hierzu auch Schlechta 2000: S. 783, Anm. zu S. 15).

8 Zwar erlangte Nietzsche mit seinem Buch auch Zustimmung heute namhafter Persönlichkeiten wie Jacob Burckhardt oder Richard Wagner, doch ruinierte eine bereits im Mai 1872 erschienene Schrift des Altphilologen Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff Nietzsches Ruf in Fachkreisen vollends (vgl. Schlechta 2000: S. 781–782).

9 Vgl. zur Geburt auf Delos Hom. Hym. 3, An Apollon: V. 14–16.

10 Vgl. Graf 1985: S. 101.

11 Ovid Meta. 6: V. 189–191.

12 Vgl. Muth 1988: S. 89, Nilsson 1955: S. 564.

13 Simon 1985: S. 130.

14 Vgl. Burkert 1977: S. 226. Ebenso betont Walter F. Otto, dass Apollons strenge Klarheit, sein überlegener Geist, sein gebieterischer Wille zur Einsicht, zum Maß, zur Ordnung (Otto 1975: S. 95) das sei, womit wir auch heute noch die griechische Kultur identifizierten.

15 Nilsson 1955: S. 564.

16 Nietzsche GdT: S. 24.

17 Ebd.

18 Hom. Hym. 3, An Apollon: V. 201–203.

19 Vgl. Simon 1985: S. 118.

20 Hom. Hym 3, An Apollon: V. 2–3.

21 Zur Datierung vgl. Graf 1985: S. 99.

22 Vgl. Hom. Ilias 1: V. 8–100.

23 Ebd.: V. 21.

24 Vgl. ebd.: V. 43–52.

25 Vgl. Aischylos Orestie, Agamemnon: V. 1202–1213.

26 Hom. Ilias 1: V. 48–49.

27 Vgl. Nilsson 1955: S. 541.

28 Muth 1988: S. 92, Nilsson 1955: S. 541–542 u. 563.

29 Vgl. Burkert 1977: S. 231.

30 Vgl. Muth 1988: S. 89, Nilsson 1955: S. 551, Roux 1971: S. 9–12.

31 Hom. Hym. 3, An Apollon: V. 282.

32 Roux 1971, S. 44.

33 Hom. Hym. 3, An Apollon: V. 288.

34 Vgl. ebd.: V. 300–304.

35 Vgl. Otto 1975: S. 97–98.

36 Hom. Ilias 1: V. 72.

37 Aischylos Orestie, Totenspende: V. 1029–1031.

38 Ebd.: V. 1059–1060.

39 Künden doch werd ich den Menschen des Zeus untrüglichen Ratschluß (Hom. Hym. 3, An Apollon: V. 132). Doch Zeus begeistert seinen Sinn mit hoher Kunst / Und setzt als vierten Seher ihn [Apollon] auf diesen Stuhl [von Delphi] (Aischylos Orestie, Eumeniden: V. 17–18).

40 Hom. Ilias 1: V. 603–604.

41 Otto 1975: S. 101.

42 Vgl. Rosenberg 2001: S. 100.

43 Vgl. hierzu auch Roux 1971: S. 14–16, Otto 1975: S. 99.

44 Aischylos Orestie, Eumeniden: V. 566–776.

45 Vgl. Burkert 1977: S. 232, Simon 1985: S. 122–123.

46 Bömer 1961: S. 286.

47 Ebd.: S. 294.

48 Ebd.

49 Vgl. Otto 1996: S. 65–68.

50 Euripides Backchen: V. 90–93.

51 Vgl. Hom. Hym. 26, An Dionysos: V. 3–5 u. 9–10.

52 Vgl. Hom. Hym. 1, An Dionysos: V. 21; vgl. auch Otto 1975: S. 111.

53 Nietzsche GdT: S. 24.

54 Ebd.: S. 26.

55 Ebd.: S. 37.

56 Ebd.

57 Euripides Bakchen: V. 114–115.

58 Vgl. Nilsson 1955: S. 569–570, Bömer 1961: S. 372.

59 Vgl. Muth 1988: S. 115, Burkert 1977: S. 251–252.

60 Nietzsche GdT: S. 37.

61 Simon 1985: S. 16.

62 Vgl. Burkert 1977: S. 258.

63 Vgl. Nilsson 1955: S. 577. Bei dem Fell handelte es sich oft um ein Bocksfell. Der Bock aber hieß altgriechisch trágos und der Gesang oidé. Der Begriff Tragödie, griechisch tragoidía, wörtlich übersetzt Bocksgesang, als auch deren Form im antiken Drama nahm ihren Ausgang in der Verbindung der dionysischen Gesänge, den Dithyramben, mit den umgelegten Fellen, die die göttliche Anwesenheit symbolisierten. Demnach entsprang die Tragödie den dionysischen Bräuchen.

64 Hom. Hym. 26, An Dionysos: V. 8–9.

65 Euripides Bakchen: V. 167.

66 Ebd.: V. 160.

67 Vgl. Burkert 1977: S. 258.

68 Vgl. ebd.: S. 259.

69 Vgl. Euripides Bakchen: V. 704–705 u. 710–711.

70 Vgl. Euripides Bakchen: V. 1109–1143.

71 Ebd.: V. 1169–1171.

72 Vgl. ebd.: V. 1214.

73 Vgl. ebd.: V. 1263–1284.

74 Vgl. Muth 1988: S. 115, Nilsson 1955: S. 585.

75 Vgl. Nilsson 1955: S. 601, Burkert 1977: S. 259.

76 Vgl. Nilsson 1955: S. 586.

77 Burkert 1977: S. 252.

78 Euripides Bakchen: V. 278–282.

79 Ebd.: V. 284.

80 Vgl. Nilsson 1955: S. 569.

81 Vgl. Otto 1996: S. 132.

82 Euripides Bakchen: V. 298–301.

83 Vgl. Roux 1971: S. 34–35.

84 Vgl. Nilsson 1955: S. 547–548, Roux 1971: S. 35.

85 Vgl. Nilsson 1955: S. 614.

86 Vgl. Burkert 1977: S. 342–343.

87 Vgl. Simon 1985: S. 292.

88 Vgl. Roux 1971: S. 161.

89 Vgl. Hom. Hym. 7, An Dionysos: V. 5–9.

90 Vgl. ebd.: V. 35–53.

91 Otto 1975: S. 114.

92 Muth 1988: S. 92.

93 Nietzsche GdT: S. 135–136.

94 Muth 1988: S. 116. Ähnliche Gedanken äußert bereits Nilsson, wenn er betont, dass der dionysische Orgiasmus seine Spuren auch im Staatskult hinterlassen (Nilsson 1955: S. 576) habe.

95 Die Ansicht, Dionysos sei thrakisch-phrygischen Ursprungs und erst spät nach Griechenland gekommen, kann als überholt gelten (vgl. Muth 1988: S. 112–113). Sie wurde wohl auch gerne ins Feld geführt, um deutlich zu machen, dass das wilde Gebaren der Dionysien im Grunde ungriechisch sei. Wenn denn das Griechentum mit Eigenschaften belegt werden sollte, bevorzugte man in der Rezeption lange Zeit, die klare Strenge Apollons hervorzuheben – aus rein emotionalen Gründen, wie mir scheint.