Das poetische Geschwulst der Ariane Breidenstein

Es könnte eine Erzählung sein; oder ein Roman, in Zersetzung begriffen. Auf jeden Fall ist Ariane Breidensteins erstes Buch Und nichts an mir ist freundlich ein wilder Text, der es wert ist, dass man über ihn spricht. Ob er sich auch zum Lesen eignet? Vielleicht… aber auf keinen Fall für jeden. Eine Rezension.

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»Und nichts an mir ist freundlich«, Buchcover
Ariane Breidenstein: Und nichts an mir ist freundlich, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007. (Bildquelle)

Es gibt Bücher, die könnte man schon allein dafür lieben, dass sie niemals zum Bestseller werden. Bücher, die nicht in 65 Sprachen übersetzt, Bücher, die nicht in sechzehn zu neun transformiert, Bücher, die nicht in ein Sammelsurium aus Spielzeugwaren­plastikpuppen­kitsch zerfallen, Bücher, die nicht als Blaupause für Hör-CDs (der merkantilen Kunst, den Zauberberg in 516 Minuten verlesen zu lassen) dienen werden. Es gibt solche Bücher, die nur für sich existieren können, die daran erinnern, dass der Akt des Lesens zutiefst asozial ist, weil man ihn nicht mit anderen teilen kann. Solche Bücher sind oft sperrig geschrieben. An ihrer eigenen Mühsal haben sie mitunter schwer zu tragen und als Leser kann man sie manchmal kaum ertragen. Sie sind weder zugänglich noch eingängig. Ariane Breidensteins Und nichts an mir ist freundlich ist so ein Buch.

Dieser Text: Mit der Beschreibung der Handlung muss man sich nicht lange aufhalten. Er hat schlichtweg keine. Ersatzweise besteht er aus einer Abfolge verschiedener Zustände: Ichzustände und Ereigniszustände – beide sowohl aktuell als auch erinnert, dabei immer akut – und, besonders prominent, die vielen Sprachzustände, durch die sich die Erzählerin kämpft. Sie sind das Terrain, auf dem sich das Buch vor allem bewegt. Denn Breidenstein versucht, den bedrückenden Hautwiderstand, die Affekte ihres erzählten Ich in Worte zu fassen. Das Ergebnis ist ein Text, den man, durchaus treffend, als unregelmäßige, metaphorisch durchsetzte Wucherung, als poetisches Geschwulst bezeichnen kann. Er ist ein fanatisches Selbstgespräch, in dem die Erzählerin sich in der Welt zu begreifen versucht, sich dabei aber nicht nur nicht findet, sondern in allem, was ein Draußen ist, verliert. Trifft sie auf eine Gruppe Menschen, spürt sie, wie sie beim Anblick der Personen in viele kleine Stücke zerfällt; sich in ein Café setzend verschmilzt sie mit dem Stuhl: ich leibe [sic] die kleinen Stühle. Sprachliche Fehlleistungen dieser Art tauchen wiederholt auf und noch häufiger diese Bilder des Zerfließens, der Entgrenzung des Ich, die darüber hinaus mit der gewählten Sprache korrespondieren. Denn nicht gerade selten brechen die Sätze ab, ändern die Sinnrichtung, verweigern sich Orthographie und Interpunktion und werden mit nur schwer verständlichen Phrasen angereichert:

Ich habe ja nie gekämpft, oder zuviel sage ich, weil mein Kriterium ja immer nur der Tod gewesen ist und also mein Kopf, den ich also zuweilen zu weit vom Körper entfernte, und auch heute, bei den größten Anstrengungen, von denen ich mich gerade ausspare, denke ich nicht, ich will es schaffen, sondern, wenn ich es nicht schaffe, dann sterbe ich halt, oder ich denke darüber nach ob die Sache die ich da vertreten soll im Angesicht des Todes überhaupt vertretbar wäre, die Lilien auf dem Felde, aber vor allem, weil der Tod für mich so etwas wie Gerechtigkeit darstellt.

Die sprachliche Form ist Verdinglichung der Unordnung, die in der Erzählerin herrscht. Sie, die Erzählerin, ist ein Häufchen Elend (nichts an mir ist freundlich), in sich selbst versunken wie die Figur (Pflanze?) auf dem Cover, ohne sich begreifen zu können.

Eine Welt da draußen, jenseits des Ich existiert in diesem Buch nicht. Vertextet werden allein die Gefühlsreaktionen der Protagonistin auf die Welt. Das Fühlen, Denken, Sein und – natürlich – Handeln der anderen Figuren ist gegenstandslos. Sie sind nur Namen ohne erkennbare Charaktereigenschaften. Eine bezeichnende Ausnahme stellen dabei die Eltern der Erzählerin, denen man durchaus so etwas wie Charakter zusprechen kann, dar. Selbst nicht ausführlich entwickelt fungieren sie vor allem als personifizierter Reibungswiderstand. Sie bezeichnen einen Standpunkt, zu dem sich das erzählende Ich in Widerspruch setzen kann. Die darauf fußende Psychologisierung wirkt nachgerade rudimentär. Denn alles in diesem Buch ist JETZT, allenfalls ein Damals im JETZT, ein übel erregender, schmerzhafter Rückfall in die Vergangenheit, der immer mehr über das Heute als das Gestern des erzählenden Ich sagt und nahezu nichts über die Entwicklungslinien dazwischen.


Um ihren derangierten Gefühlshaushalt ins Gleichgewicht zu bringen, beschreitet die Erzählerin zwei verschiedene therapeutische Wege: Natur und Schreiben. Der Versuch jedoch, sich auf dem Weg in die Natur ein Stückchen Sicherheit zu verschaffen (dieser Baum ist doch sehr besonders, […] man kann zu ihm ZURÜCKKEHREN), wird, je weiter der Text fortschreitet, allmählich zur manischen Pose. Er stellt sich implizit sogar als schreiender Misserfolg heraus. Denn die unberührte, stabile Natur, die diejenige Art von Sicherheit verbürgen könnte, die so dringend gesucht wird, scheint es nicht zu geben. Immer wieder kommen der Erzählerin Brachen dazwischen, immer wieder wird ihr heiß geliebtes Gras trotz heftiger Proteste gemäht. Außerdem: Trifft die Protagonisten auf die Welt der Pflanzen, hat sie diese schon längst verändert, ist sie schon längst mit den Gefühlen aufgeladen, die das suchende Ich mitbringt; diese Welt ist Ausdrucksmittel oder Brennpunkt für einen bestimmten Hautwiderstand und kein Alternativentwurf. Obwohl sie als Traumort apostrophiert wird, ist sie untauglich für den Prozess der Heilung. Denn die Schönheit der Pflanzen erinnert permanent daran, dass der Mensch aus solch einem Schleim gemacht ist. Die Pflanzen stehen nie nur für sich. Darum können sie auch nicht aus sich heraus Sicherheit bieten. Zu allem Überfluss droht im Kontakt mit ihnen der Verlust der eigenen Person:

[…] das mit dem Nußbaum z. B. war Übermut, war kindliche Freude an seinem Duft, dem Aussehen, dem Anfassen des glatten geschälten Stamms, die Lust, dieser Fasern und wie sie sich lösten und übergingen in mein Fleisch. Das ist ja heute alles ganz anders […], es ist ja in mich gedrungen […].
Dann will ich ein Baum werden und vielleicht zu denken anfangen, ich meine vernünftig, wenn das dann überhaupt noch möglich ist, und das alles nur, weil ich einen Baum geleibet [sic] habe […].
Man also ich möchte mich dazustellen zu den anderen Bäumen, ich bin, Daphne.

All das, was Natur ist, Bäume, Hecken, Gräser, dient als Sprachreservoir. Natur ist etwas, das man bezeichnen kann, für das es ein Wort gibt, das für das Unnennbare im Inneren des Ich Platzhalter ist. Dabei ist sie beides zugleich: ein Ort, der paradiesische Erlösung verspricht und mit dem Verlust der eigenen Person droht. Vor allem aber Bildspender für den Ausdruck des Innenlebens. Darüber hinaus entwickelt sie sich parallel zu den erzählten Ereigniszuständen: Die Stirn [der toten Mutter] war kalt und bröselig und der Weidenbaum war auch schon tot. Gerade deswegen wirkt die Naturvernarrtheit der Erzählerin wie eine Pose. Sie soll vergessen machen, dass immer dann, wenn über Pflanzen gesprochen wird, eigentlich die Erzählerin über sich selbst und ihren Hautwiderstand spricht.

Das Schreiben ist ein ebenso ambivalentes Therapeutikum. Einerseits verspricht es Schutz vor und Zugang zur Welt. Andererseits ist es auch wieder nur Symptom der Zersplitterung. So wird der Notizblock der Erzählerin zu einer Art Schutzschild. Die einzige Möglichkeit, sich dem Draußen auszusetzen, besteht darin, mit ihm bewehrt zu sein. Die Sprache, die aus der Konfrontation mit der Welt resultiert, ist dabei alles andere als analytisch. Es geht nicht darum ein Messer […] für alle Sprachen zu finden, nach der die blöde Linguistik Ausschau hält, um aus den Phänomene eineindeutig Seme schneiden zu können. So tötet sie die Bilder. Der Erzählerin geht es vielmehr darum, den bildhaften Wert der Wörter wieder hervorzuzaubern. Das impliziert eine sprachliche Fehlleistung wie diese: […] habe aber wie man merkt, jegliche Kontrolle verloren, sehe Fremdbestimmung bedrohlich auf mich zurasen und werfe also alles über Boot. Das sprachliche Bild bleibt hier zwar im gewöhnlichen Gegenstandsbereich, doch die ehemals festgefressene Metapher wird durch die unkonventionelle Wortwahl gleichsam losgesprengt. Sie gewinnt ihre Kraft zurück.

Kann er auch etwas Verlorenes wieder hervorzaubern – von den Leiden zu befreien vermag der Schreibprozess nicht. Sein Ergebnis ist vielmehr stofflicher Niederschlag der Qual:

Und bin etwas verwirrt, weil eigentlich das Schreiben eines Textes, sage ich sich nicht so fädelt und ausdünnt, wie dieser hier, […] es ist ja immer ein Vorgehen und Zurückgehen gewesen, ein Herumgehen im Text und nochmaliges Überdenken, das Streichen von Passagen, das gelegentliche Einstreuen, und bin wie ein Sämann jetzt der mit leeren über das Feld, Händen und nicht zurückschaut und schaufelt, und gräbt sich ein JETZT.

Schreiben ist desillusionierter Ausdruck der Stagnation und nicht etwa Heilung versprechendes Remedium. Drohte die Integrität des Ich im Kontakt mit den Pflanzen abhanden zu kommen, so droht ihm, beim Gebrauch der Worte die Welt selbst zu verschwinden. Sprache kann nur die Zersplitterung des Raumes in Worte rekapitulieren. Kitten kann sie die Scherben nicht.


Und nichts an mir ist freundlich ist passagenweise ein wirklich geglücktes Buch. So ist es durchaus interessant, zu beobachten, wie sich die Protagonistin selbst zergliedert, um dann jedes isolierte Glied für sich zu untersuchen. Daneben finden sich wahrhaft gelungene Bilder (Die Stifte waren nadelfein und ich nähte damit die Worte) und vermeintliche Ungenauigkeiten (ich nehme zunehmend unsere völlige Beziehungslosigkeit fest), die den komplexen Stil, der zum langsamen Lesen zwingt, allemal rechtfertigen. Problematisch ist hingegen, dass die Erzählerin nahezu keine ironischen Züge aufweist. Dass selbst Texte mit den grausamsten Inhalten von einem wohldosierten Maß Ironie profitieren, sieht man schön an Franz Kafka. Dessen Erzählungen können zugleich schreiend komisch und zutiefst verstörend sein. Eine so breit vorgetragene, allumfassende Gewichtigkeit wie in Breidensteins Buch, die impliziert, etwas könne nur ernst, bedrückend, ichzerfressend und sonst nichts sein, scheint mir heutzutage nicht mehr zu funktionieren. Vielleicht muss man sogar soweit gehen, einen derartigen Duktus als unangemessen zu bezeichnen. Irony is not over!

Das zentrale Problem des Textes ist jedoch, dass sich nichts entwickelt – weder zum Guten noch zum Schlechten. Er liest sich, als sei er die Landkarte einer Seelenlandschaft, auf der die Grenzen ein für allemal gezogen wurden. Zwar werden auf ihr dieser Gebirgszug und jene Untiefe ausführlich erkundet… doch das Ergebnis entspricht dem Anfang und dazwischen gibt es keine ernsthafte Möglichkeit, die Grenzen auf der Karte zu verschieben. Diese Entwicklungsarmut, kombiniert mit der fast durchgängig schweren Lesbarkeit des Textes, macht das Buch auf Dauer recht langatmig. Im Großen und Ganzen ist es zwar noch gut, zumal es eine formale Herausforderung für den Leser darstellt und daran erinnert, dass gute Literatur sich nicht nur auf der Ebene der Handlungen bewegt; einen zweiten Versuch dieser Art, der die Protagonisten bar jeder Entwicklung sein lässt, würde ich Breidenstein wahrscheinlich nicht mehr abnehmen.

So erinnert Und nichts an mir ist freundlich nicht nur daran, dass das Buch eine Daseinsform eigenen Rechts ist, dass das Buch sich der reibungslosen Konsumierbarkeit kulturindustrieller Produkte – eine Reizlosigkeit, die gelegentlich auch ihren Reiz haben kann – durchaus zu erwehren weiß. Dass eine junge Autorin einen derart komplexen Erstling schreiben kann und publizieren darf, zeigt außerdem, dass die Entwicklung des literarischen Feldes nicht zwangsläufig hin zu einer bekömmlichen Massenliteratur gehen muss. Denn es hat immer wieder solch seltsame, verstörende und gar nicht eingängige Texte gegeben, die inhaltlich und formal von allem abwichen, was arriviert und standardisiert war. So zum Beispiel Louis Aragons surreale Erzählung Les Aventures de Télémaque oder Peter Handkes Affront der Publikumsbeschimpfung. Dasselbe gilt, mutatis mutandis, natürlich auch für andere Kunstgattungen wie den Film. Man denke nur an Gus Van Sants Spielfilm Gerry, in dem nichts geschieht außer das Gehen von Gerry und Gerry. Oder an Samuel Becketts Kurzfilm Quadrat I+II – Form, Schlurfen, Trommeln… und sonst nichts. Wie diese Werke bricht auch Ariane Breidensteins Buch Gewohnheiten auf, die drohen sich festzufahren. Und das ist ein mehr als nur sympathischer Zug dieses Textes. Wer Literatur wirklich liebt, könnte auch dieses Buch gut finden. Alle anderen…