Paul Celan: Todesfuge

! Dies ist ein alter Text! Was heißt das?

Auf die Fragen, warum das Gedicht anders heißen sollte, aber nicht anders heißen konnte, warum es nicht verstanden wurde, aber verstanden werden sollte und welche Funktion Strukturmuster in ihm haben, versucht dieser Essay eine knappe Antwort zu geben.

Von


Es wurde verlacht. Von einer illustren Gesellschaft, der man es nicht so ohne weiteres zutraute, dass sie sich diesem Gedicht so vehement zu verschließen vermöge: der Gruppe 47. Doch warum? Nahmen sie Celan seinen monoton pathetischen Vortrag nicht ab? Oder hörten sie die Musik, den Tanz aus den Zeilen und waren indigniert und dachten, barbarisch nach Auschwitz über Auschwitz Lyrik schreiben?

Wäre es bei seiner Ursprungsbezeichnung Todestango1 geblieben, schwänge im Text wahrlich ein Zuviel an Beweglichkeit und Freiheit mit. Dass es nunmehr Fuge heißt, steht ihm gut. Warum nicht Tango? Gerade weil im Text vornehmlich Daktylen zu finden sind, die zudem noch öfters durch Trochäen unterbrochen werden, und er somit rhythmisch abwechslungsvoll ist, brauchte das Gedicht den Vergleich mit einem agilen und an Tempovariationen reichen Tango nicht zu scheuen. Doch vermag man über den Namen Todestango keine Parallele zur inhaltlichen Bedeutung dieses Werkes zu ziehen. Der Vielschichtigkeit, dem Ineinandergreifen unterschiedlicher Bedeutungsschichten kommt die Bezeichnung Fuge näher. Die barocke Starrheit, Bestimmtheit, Verstrickung eines Grundthemas in sich, mit sich selbst und der barocke Geisteshorizont, den diese Gattungsbezeichnung evoziert – bedingungslose Gläubigkeit, Repräsentation des Ganzen durch den Einzelfall –, ist diesem Gedicht bei weitem angemessener als die Assoziation mit der Lebensfreude und Beweglichkeit eines Tangos. Mit Fuge lässt sich die Konstruktionsweise des Gedichts schlicht am besten charakterisieren: Die einzelnen Motive, die sich in jedem Abschnitt in immer neuen Kombinationen in sich selber schieben, das Fehlen jeglicher Interpunktion, das dadurch erzeugte parataktische Satzgefüge, welches die Motivverschränkung zusätzlich bestärkend hervorhebt, sowie die Mehrdeutigkeit des Ausdrucks bilden die Eigenheiten einer Fuge in sprachlicher Form nach.

Celan legt also eine Schablone der verschnörkelten Präzision des Gewalttodes im nationalsozialistischen Konzentrationslager über den Topos eines kontrapunktisch verarbeiteten Musikstücks. Ist eine Fuge noch so verschoben und ist sie dem unerfahrenen Hörer ebenso wenig nachvollziehbar, wie das Diktum schwarze Milch rational ist, so folgt sie doch aufs Genauste ihren inhärenten Gesetzen. Es ist immer ersichtlich woher sie kommt und wohin sie geht, da ihre Motive aus der Flut an Tönen wieder und wieder hervortauchen. Im Gedicht finden wir entsprechende Strukturen. Einzelne Kola wie dein goldenes Haar Margarete werden wiederholt aufgegriffen und mit anderen Syntagmen in Bezug gesetzt. Gleichwohl auch neue Textstränge eingewoben werden, wissen wir uns beständig im selben Thema und erkennen schon bekannte Passagen wieder.

Das Erer schreibt … er pfeift … er befiehlt – des Peinigers vertritt hier die große Masse der Kujons, die geschehen machten, und – synekdochisch – der Duckmäuser, die geschehen ließen, ist also pars pro toto, Repräsentation des Ganzen durch den Einzelfall. In gleicher Weise stellen Margarete und Sulamith keine individuellen Subjekte, sondern Folien dar. Dass man Sulamith im Alten Testament2 erwähnt findet und dort im Kontext eines orgiastischen, glücklichen Liebeslebens sieht, ist ebenso sekundär wie die Anspielung auf das Gretchen aus dem Faust mittels des Namens Margarete. Sie – diese unpersönlichen Personen – sollen nur die aus dem Gedicht hervorscheinende Dichotomie bestärken. Beide sollen sie Prototypen eines Gegensatzes sein – erfüllte Liebe versus gebrochene Liebe. Dies jedoch auf einer anderen Ebene als der Gegensatz zwischen wir und er, zwischen Gepeinigten und Peinigern. Zusätzlich erhöht wird die Ambivalenz der beiden Personen in Bezug auf das Gedicht auch noch durch das Verschieben von Freude und Leid im Bild dieser Personifikation. In der Todesfuge ist Sulamith das jüdische und Margarete das deutsche Prinzip. Ist Sulamith im Hohenlied noch das erfüllte und Margarete im Faust das gebrochene Prinzip, verkehren sich in der Fuge Celans die Gegensätze: Der Deutsche wird grausame Erfüllung, der Jude peinvolles Zerbrechen. Alles schiebt sich ineinander, wendet sich gar ins Gegenteil, ein gekrebstes Motiv, semantisches Palindrom.

Infolge all dessen heißt das Gedicht also Fuge und gleicht dennoch nicht einer zur Lobpreisung Gottes geschrieben Bach’schen Fuge, ist dafür mehr ein letzter Halt angesichts der Folter im Todeslager, gemahnt an eine Ankerkette, die die Gewalt der Zeit allmählich mürbe rostet, bis sie schließlich reißen muss. Die Musik, die Kunst im Allgemeinen ist im Todeslager respektive Ghetto vielen Menschen ein Rest ihrer vergangenen Welt gewesen, der ihnen die zu erduldenden Qualen erträglicher machte. Daran konnte der Geschurigelte sich festhalten, eine, wenn auch geringe, Zuflucht finden; viel hatte er ja nicht mehr. Nur noch einen Reim. Doch selbst der wird hier in seiner himmelschreienden Stimmigkeit festgehalten, korrekt gebaut (fünfhebige Daktylen mit Auftakt), denn schließendlich bleibt nicht viel mehr übrig, als das düstere Gefühl von blauen Augen erschlagen zu werden. Und in diesem seine Augen sind blau entdecken wir wieder ein Attribut der Fuge und des Gedichtes: Mehrstimmigkeit der Melodie, Mehrdeutigkeit des Textes. Wieder zeigt sich eine Figur, die keine Person, aber einen Prototypen, ein grausames Ideal, gleich Margarete und Sulamith, abbildet und im selben Moment ein realexistentes Individuum vorstellt. Zum anderen offenbart sich eine Wesensart: blauäugig wird man erschossen; gutgläubig wird man erschossen.

Bevor einem allerdings dieses letzte Schicksal zuteil wird, muss man wandern; durch die nicht enden wollenden Schikanen eines Konzentrationslagers wandern; muss man ein wenig der Ewige Jude sein. Im Unterschied zu diesem quält man sich jedoch nicht durch die heimatlosen Weiten der Welt, sondern durch die sich bitter wiederholenden Motive einer Fuge.

Hermetismus, nicht unmittelbare Verständlichkeit, versiegeltes Dichten3 wurde Celan häufig vorgeworfen. Auf die Todesfuge trifft keiner dieser Punkte zu. Sinnzusammenhänge wurden hier nicht versiegelt, sondern zerschlagen, und hernach auf unvorstellbare Weise wieder aneinander gefügt, ineinander gedreht. Das Auseinanderstemmen der alten und das Schaffen neuer Kontexte ist ein Wink, den man sofort versteht, der jedem zugänglich sein muss, der uns sagen will, dass nicht etwa Ausdrückbares, vielmehr Unaussprechliches der Inhalt dieses Gedichtes ist. Denn keine hergebrachten Worte könnten dem Gegenstand des Holocaust Genüge tun. Celan: Dieser Sprache geht es, bei aller unabdingbaren Vielstelligkeit des Ausdrucks, um Präzision.4 Mehr könnte keine Aussage auf die Todesfuge zutreffen. Die Vielstelligkeit, Vielstimmigkeit des Ausdrucks in seinen Versen ist nötig, um den Eindruck der Unausdrückbarkeit zu erhalten. Präzision liegt darin, dass der Versuch, das Unmögliche in Worte zu fassen, ein Versuch bleibt. Celan vollbringt das Kunststück dem Schrecken eines Todeslagers nicht mit Verständlichkeiten zu begegnen, ihn dafür mit Gefühlen zu erfassen. Deswegen auch gar nicht erst der Versuch seinerseits, sich dem Grauen rational zu nähern. Das Verstehen der Verse Celans liegt nicht im Verstehen seiner Bilder, im Entschlüsseln des berühmten Oxymorons begründet; der Inhalt muss gefühlt werden: das Verständnis kommt von selbst5. Wenn es hier nicht von selbst kommt, dann gar nicht.

Text der Todesfuge

Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends
Wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts
Wir trinken und trinken
Wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng
Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt
Der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete
Er schreibt es und tritt vor das Haus und es blitzen die Sterne er pfeift seine Rüden herbei
Er pfeift seine Juden hervor läßt schaufeln ein Grab in der Erde
Er befiehlt uns spielt auf nun zum Tanz
 
Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
Wir trinken dich morgens und mittags wir trinken dich abends
Wir trinken und trinken
Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt
Der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete
Dein aschenes Haar Sulamith wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng
 
Er ruft stecht tiefer ins Erdreich ihr einen ihr andern singet und spielt
Er greift nach dem Eisen im Gurt er schwingts seine Augen sind blau
Stecht tiefer die Spaten ihr einen ihr andern spielt weiter zum Tanz auf
 
Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
Wir trinken dich mittags und morgens wir trinken dich abends
Wir trinken und trinken
Ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
Dein aschenes Haar Sulamith er spielt mit den Schlangen
 
Er ruft spielt süßer den Tod der Tod ist ein Meister aus Deutschland
Er ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch in die Luft
Dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng
 
Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
Wir trinken dich mittags der Tod ist ein Meister aus Deutschland
Wir trinken dich abends und morgens wir trinken und trinken
Der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau
Er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau
Ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
Er hetzt seine Rüden auf uns er schenkt uns ein Grab in der Luft
Er spielt mit den Schlangen und träumet der Tod ist ein Meister aus Deutschland
 
Dein goldenes Haar Margarete
Dein aschenes Haar Sulamith6

Anmerkungen

1 Vgl. Matt, Peter von: Wie ist das Gold so gar verdunkelt. In: Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie, Bd. 14, Gedichte und Interpretationen. Frankfurt/Leipzig (1991); (= Matt 1991).

2 Vgl. AT, Hoheslied 7,1.

3 Vgl. Matt 1991.

4 Paul Celan über seine Lyrik; zit. n.: Jens, Walter (Hrsg.): Kindlers Neues Literaturlexikon. München (1990), s. v. Celan.

5 Zit. n. Neumann, Peter Horst: Zur Lyrik Paul Celans, Eine Einführung. 2., erweiterte Auflage, Göttingen (1990).

6 In: Echtermeyer, Ernst Theodor/Wiese, Benno von (Hrsg.): Deutsche Gedichte, Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Düsseldorf (1963), S. 694–695.