Die Mittagsfrau von Julia Franck oder Die Sprache spielt Verstecken

Für ihren Roman Die Mittagsfrau erhielt Julia Franck 2007 den Deutschen Buchpreis. Doch ist die Lebensgeschichte der jungen Frau, von der Franck ihn ihrem jüngsten Werk erzählt, wirklich so überzeugend vorgetragen, wie es die Auszeichnung vermuten lässt? Oder muss man ihr preisgekröntes Buch doch eher als Kotau vor dem Massengeschmack bezeichnen? Eine Rezension.

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»Die Mittagsfrau«, Buchcover
Julia Franck: Die Mittagsfrau. Roman, Frankfurt a. M.: Fischer 2007. (Bildquelle)

Worin immer der Reiz genau bestehen mag, der Schriftsteller dazu verführt, ihre Romane in den Raum der deutschen Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu stellen – er hat seine Kraft noch lange nicht eingebüßt. Vielleicht geht seine Wirkung darauf zurück, dass gerade diese Zeit sich anbietet, als eine Art Großmilieu behandelt zu werden. Die chronologische Abfolge der politisch-kulturellen Ereignisse ist das Gehege, das die Bewegungsmöglichkeiten und Erkenntnisfähigkeiten des Romanpersonals absteckt; die etablierten, allgemein anerkannten Lesarten der Zeit und die als möglich erachteten Perspektiven der Figuren legen beide schon in dem Moment, in dem auf genau dieses historische Bedeutungsfeld zurückgegriffen wird, viele der Überzeugungen und Schlussfolgerungen fest, die in anderen Zusammenhängen zunächst erlesen und entschlüsselt werden müssten. Das ist natürlich bequem für den Leser und darum auch populär. Er kann sich beispielsweise sicher sein, dass die Lobreden auf den Nationalsozialismus, die die eine Figur hält, von einer anderen auf die ein oder andere Weise konterkariert werden. Darüber hinaus darf er bestimmte Entwicklungsschritte erwarten, die die Figuren aller Wahrscheinlichkeit nach durchmachen werden. Diese Schritte orientieren sich am permanenten Umschwung der historischen Verhältnisse, die gerne an Daten festgemacht werden; ein chronologischer Raster, an dessen Knotenpunkten konventionalisierte Bedeutungen fest verankert sind: 1914, 1918, 1923, 1929, 1933, 1939, 1945… Von der Urkatastrophe des Ersten bis zur Großkatastrophe des Zweiten Weltkriegs: Handlungsführung mit erwartbaren Wendepunkten. Auf diese Weise wird die Entscheidung für die historische Verortung des Geschehens fast schon in die festen Entwicklungsschritte einer Regelpoetik konvertiert. Julia Francks Roman Die Mittagsfrau spielt in just dieser Zeit.

Erzählt wird das Leben einer jungen Frau, Helene Würsich: Die Kindheit im Bautzen des beginnenden 20. Jahrhunderts, in den Fängen einer allmählich dem Wahnsinn verfallenden Mutter (eine Jüdin), der langsam an seiner Kriegsverwundung zugrunde gehende Vater (ein Christ), die lesbisch-inzestuösen Erfahrungen mit der Schwester, die Ausbildung zur Krankenpflegerin und – man könnte es auch als eine Flucht bezeichnen – der Wegzug der beiden Schwestern zu ihrer Tante nach Berlin, die verrückte Mutter in der Dunkelheit ihres Zimmers zurücklassend. In Berlin erlebt Helene die rauschhafte Frivolität der Roaring Twenties. Ein Leben ohne finanzielle Sorgen, zwischen Kabarett und Opiaten, Tanz und freier Liebe; ein Leben, mit dem sie nie ganz warm wird, obwohl ihre so innig geliebte Schwester voll in ihm aufgeht. Die beiden werden einander fremd. Schließlich findet Helene ihre große (jetzt heterosexuelle) Liebe, doch kurz vor der Verlobung stirbt ihr Liebhaber bei einem tragischen Unfall. Der stechende Schmerz und die tiefe Trauer Helenes gehören zu den gelungensten Passagen im ganzen Buch. Helene arbeitet von nun an wieder als Krankenschwester. Ihre Anstellung ist allerdings prekär, da sie sich jetzt, in den Dreißigerjahren, auf keinen Fall mehr als Halbjüdin zu erkennen geben darf, von ihr aber immer wieder Papiere gefordert werden, die sie selbstredend nicht beibringen darf. Ihre neue männliche Bekanntschaft, Wilhelm, besorgt ihr gefälschte Dokumente unter anderem Namen, die allerdings Heirat und Wegzug nach Stettin unumgänglich machen. Doch diese Liebe, die zwischen Helene und Wilhelm, ist keine. Dass sie keinen gemeinsamen Sex haben (Wilhelm nimmt sie sich), ist die zeichenhafte Verdichtung ihres gegenseitigen Fremdseins. Schließlich wird Helene schwanger und ohne formale Trennung von Wilhelm verlassen. So, wie Mann und Frau einander fremd blieben, werden es später Mutter und Kind sein – für immer.

Julia Franck hat diese Geschichte nicht aus der Position einer allwissenden Erzählerin oder weisen Interpretin geschrieben. Sie wird fast durchwegs (nur Pro- und Epilog bilden hier eine Ausnahme) aus der Perspektive Helenes erzählt. Genauer von einer Person, die mit dem Ich von Helene nahezu vollständig verwachsen ist. Wer die anderen Romane Francks oder die Erzählungen in Bauchlandung gelesen hat, dürfte sich darüber nicht weiter wundern. Das ist ihre Methode zu schreiben; eine Methode, die in Francks Texten definitiv den Rang eines primären Stilmerkmals einnimmt. Abweichungen gibt es in dieser Hinsicht keine. Das Erzählte wird immer aus den Wahrnehmungen und Gefühlen ausgewählter Figuren konstruiert, mal ist die gewählte Perspektive ein und dieselbe (so in ihrem Roman Liebediener), mal wechselt sie kapitelweise (so in Lagerfeuer). Das hat Die Mittagsfrau mit ihren Vorgängertexten gemeinsam und das beherrscht Franck wirklich gut. Daneben hat sie auch in ihrem jüngsten Buch ganz hervorragend an den Figuren gearbeitet, mit denen sie ihre Romanwelt bevölkert. Jede ist greifbar, jede ist vollständig durchgeformt und psychologisch verständlich. An keiner lassen sich willkürliche Entwicklungssprünge entdecken. Kurzum: Sie sind plastisch.

Die Plastizität der handelnden Figuren entsteht aber auch dadurch, dass sie als Reflex der Wahrnehmungen einer einzigen Person, nämlich Helenes, auftreten. Durch die Wirkungen, die sie auf diese ausüben, gewinnen sie selbst an Kontur. Sie werden für die Welt des Romans quasi erst in dem Moment geboren, in dem sich ihr Handeln mit dem von Helene verschränkt und indem dieses Handeln Helene beeinflusst und ihr Denken verändert. Helene als zentrale Figur ist der archimedische Punkt, an dem die anderen Spieler ansetzen. Sie treten nie freischwebend, sondern immer im Zusammenhang mit dieser auf, haben mithin eine feste Basis, auf der sie alle miteinander ruhen. Ihre Geltung für den Handlungsverlauf nimmt in demselben Maße zu, in dem sie für Helene an Bedeutung gewinnen. Man kann sogar sagen: Die große Konsistenz der Figuren muss, gerade weil sie sich alle um diese gruppieren, als Ergebnis einer Konstruktion Helenes gelesen werden. Unstimmigkeiten hat diese aus ihrer Konfrontation mit den anderen bereits herausgefiltert, um ihre Mitmenschen als Einheit, als klar voneinander unterscheidbar zu begreifen.

Aus demselben Grund gleiten die Handlungen Helenes, auch wenn sie herausgelöst aus dem Erzählzusammenhang so wirken könnten, nie ins Absurde ab. Sie rechtfertigen sich selbst durch ihre konsistente, wenn auch verletzliche Gefühlswelt. Mag sich Helene auch über Denken und Fühlen der anderen täuschen (dies geschieht offensichtlich regelmäßig), das, was sie fühlt, kann in sich nicht falsch sein. Mag sie sich oder die anderen auch falsch einschätzen, dieses Falsch wird in dem Moment, in dem es sich zu einem Gefühl verdichtet immer zu einem Richtig. Sich selbst Emotionen oder Einstellungen vorzugaukeln, die man nicht hat, ist ein Unding.

Diese Beobachtungen scheinen mir wichtig. Ringt Julia Francks Roman auch über weite Strecken um eine Bedeutung, die über das Erzählte hinausweist – genau in diesem Punkt hat er sie wirklich. Dadurch, dass Franck ihre personale Erzählerin auf Kommentare jenseits des Empfindens der zentralen Figur verzichten lässt, entzaubert sie die Gewissheit von individuellen Wahrnehmungen und Überzeugungen. Was übrig bleibt, das letzte, was wirklich noch als Träger einer wahren Bedeutung fungieren kann, ist das Denken und Fühlen der Person, deren Perspektive eingenommen wird: Helenes Denken und Fühlen. Die eigene psychische Verfassung ist die letzte verbliebene Gewissheit. Authentizität lässt sich nicht erreichen, indem der andere betrachtet und besser mehr als minder treffend analysiert wird. Sie hat ihren Ort allein im persönlichen Ausdruck des Individuums selbst. Pro- und Epilog, die aus einer anderen Perspektive geschrieben sind, halten diesen individuellen und darum nur im Innenraum des Selbst voll gültigen Wahrheiten den Zerrspiegel der anderen Psyche vor. Was dort richtig erscheint, wirkt hier gebrochen und falsch. Diese Spannung, die sich aus den unterschiedlichen Perspektiven von Haupt- und Nebenteil des Romans ergeben, machen meines Erachtens seinen eigentlichen Wert aus.

Die Methode, mit der Julia Franck diese Spannung erzeugt, hat aber auch ihren Preis. Sie schreibt zwar sehr empatisch und gefühlvoll, weich und ruhig. Das hat durchaus Stil. Aber so, wie eine Berührung mitunter auf seltsame Weise körperlos sein kann, so scheint dieser Roman, genauso wie seine Vorgänger irgendwie sprachlos. Gerade weil sie ihre Erzählerpersonen immer so nah an den Hauptfiguren aufbaut, die alle keine Träger einer artistischen Sprache sind, nehmen ihre Texte durchweg eine eher glatte, unauffällige Form an. Das ist den Figuren, aus denen heraus sich ihre Bücher entwickeln, auf jeden Fall angemessen, hat aber auch zur Folge, dass das Material, das sie zum Erzählen verwendet, vor lauter Erzählung fast nicht mehr spürbar ist. Ihre Sprache wirkt wie gezügelt durch einen Autorenwillen, der sie unbedingt hinter dem Erzählten verstecken will, und manchmal – das ist das eigentlich Schlimme – scheinen kurze, poetisch-schöne Passagen fast aus dem Buch herauszufallen. Formulierungen oder Bilder wie: Meist lachte Leontine allein. Martha und Helene lauschten ihrem Lachen mit offenem Mund; vielleicht konnte das Lachen so besser durchs Zwerchfell in die Bauchgrube sickern, sind dermaßen auffällig, dass sie fast schon deplatziert wirken.

Kann man Die Mittagsfrau auch – genauso wie die anderen Romane und Erzählungen Julia Francks – als einen Text verstehen, der sich mit den Grenzen der individuellen Wahrnehmung befasst, so hinterlässt diese Beschäftigung in der Sprache, dem eigentlichen Werkzeug der Autorin, doch nahezu keine Spuren. Sprache ist in Francks Texten nicht Objekt des Zweifels. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie auf die Dinge in der erzählten Welt verweist, ist aus ihrer Schreib- und Konstruktionsmethode zwar erklärlich, fühlt sich auf Dauer aber auch ein wenig schal und ungut an. So weiß sie sich zwar perfekt in ihre Figuren zu versetzen, versäumt es aber, ihnen einen eigenen, nur ihnen gehörenden Duktus zu geben. Sie zieht ihnen eine Haut aus möglichst unauffälligem Stoff über, der zwar robust, aber eben auch ein wenig eintönig ist. Durch ihr Einfühlungsvermögen gibt sie ihren Figuren Individualität, die sie ihnen durch ihre zu flache Sprache zugleich wieder nimmt. Denn die uniforme Hülle, die sie tragen, ist nicht wirklich ihr Eigen. Jede hat ihre mit allen anderen gemeinsam. Die Gefühlswelt eines jeden Protagonisten breitet zwar eine Ebene vor ihm aus, die nur ihm allein gehört. Diese Ebene ist aber bei allen auf dieselbe Weise flach. Am Ende von Francks Texten bleibt zwar das beeindruckende Gefühl, etwas erzählt bekommen zu haben. Die Darreichungsform – gelesen, gesehen, gehört – ist nach einer Weile nahezu aus der Erinnerung getilgt.

Das ist natürlich ein massiver Vorwurf. Denn Geschriebenes, dass sich seiner selbst nicht bewusst ist, muss sich die Frage gefallen lassen, warum es geschrieben und nicht gleich bebildert worden ist. Ein guter Roman wird erst dann gut, wenn er neben der Erzählung auch mit vollem Recht ein Sprachwerk ist, nur hier und nur in diesem Medium so existieren kann. Ich denke, dass Die Mittagsfrau unter diesem Aspekt durchaus hinterfragt werden sollte. Doch wäre es falsch, mit Julia Francks jüngstem Roman allzu hart ins Gericht zu gehen und ihn als törichtes Machwerk zu deklarieren. Erstens zeigt er die gebrochene Wahrnehmung der Hauptfigur auf eine Art und Weise, die wohl kaum eins zu eins in bewegte Bilder zu übersetzen ist. Die Bindung an die Sprache scheint mir hier unlösbar. Zweitens ist ihr Buch eines, das wirklich etwas zu erzählen hat. Es ist keine Sprache ohne Welt – auch das darf man von einem guten Roman erwarten.

Problematisch ist und bleibt allerdings der historische Hintergrund, den die Autorin sich für ihren Stoff ausgesucht hat. Auf diesem Fundament ist leider vieles in der Geschichte allzu vorhersehbar: So zum Beispiel das baldige Ende der ausgelassenen, zunächst scheinbar endlosen Feier im Berlin der Zwanzigerjahre oder Helenes Furcht davor, als Halbjüdin enttarnt zu werden. Der historische Background lässt einfach nicht genügend Entwicklungsmöglichkeiten, er scheint dem Buch mehr zu nehmen, als zu geben. Der Schrecken in einer Zeit ohne Schrecken scheint mir immer noch beeindruckender als der, den man so auch erwartet, zumal die konventionalisierten Vorstellungen der Möglichkeiten Helenes nicht unterwandert werden. Die Innenwelt dieser Figur während der Nazi-Zeit ist bereits erschlossen, bevor sie erzählt wird. In Francks Roman Lagerfeuer ist dies ganz anders. Die Flüchtlinge aus den Diktaturen Osteuropas, die in einem Aufnahmelager in West-Berlin leben, müssten eigentlich vor Glück über ihre gewonnenen Möglichkeiten übersprudeln. Aber dieses Glück stellt sich nicht ein, nicht einmal für einen kurzen, vergänglichen Moment. Sie bringen eine hoffnungslose Verzweiflung aus der alten Heimat mit in die neue und sind nie in der Lage, sich ihrer zu entledigen. Das fühlt sich auch für den Leser anders an als die Furcht einer Jüdin im faschistischen Deutschland als solche entdeckt zu werden. Auch wenn die seelische Zerrüttung, in die diese Furcht sie treibt, gut erzählt und nachvollziehbar ist. Sie bleibt trotzdem erwartbar, sie ist bereits im Moment der Adaption des Großmilieus vorgezeichnet.

Zieht man aus dem bisher Gesagten die Summe, dann drängt sich die Frage auf, wieso gerade Die Mittagsfrau vom Gremium des Deutschen Buchpreises den Vorzug vor, zum Beispiel, einem so frechen Text wie dem schreiend-komischen Selbstzerfleischungsroman Das bin doch ich von Thomas Glavinic erhalten hat, der es ja immerhin auch auf die Shortlist der besten sechs schaffte. Natürlich hebt die Jury – das ist kein Zufall – die psychologische Intensität von Francks Roman hervor, also das, was ihn auch aus meiner Sicht gegenüber anderen Büchern auszeichnet. Die ebenfalls bemerkte sprachliche Eindringlichkeit erschließt sich mir allerdings nicht. Tatsächlich ist der Roman sauber, routiniert und souverän geschrieben. Doch verfügt er eben nicht über eine widerständige Sprache, artistische Stolpersteine oder Formulierungen, die einen nicht mehr loslassen. Das Sprachspiel, das hier gespielt wird, heißt Verstecken. Die Sprache versteckt sich hinter der Erzählung und die Erzählung im gemütlichen Kostüm einer längst vergangenen Zeit. Das macht das Buch auf eine Weise mit der Idee des Deutschen Buchpreises (über Ländergrenzen hinaus Aufmerksamkeit zu schaffen für deutschsprachige Autoren) kompatibel, die es für die Auszeichnung wesentlich geeigneter erscheinen lässt als – um bei dem Beispiel zu bleiben – der Selbstversuch von Glavinic. Es ist, gerade auch thematisch, einer breiten Masse zugänglich, passt zu jedem, tut keinem wirklich weh. Niemand muss es bereuen dieses Buch gelesen zu haben, jeder darf sich in dem schönen Gefühl wiegen, keinen Fehler begangen, seine Zeit nicht vollends verschwendet zu haben. Dass es zu jedem passt, verweist allerdings auch auf seine beklagenswerte Austauschbarkeit. Wo sich die Geister nicht scheiden, gibt es meist nichts Entscheidendes zu entdecken. Die Mittagsfrau von Julia Franck ist ein Buch zum Lesen – aber leider keines zum Wieder-Lesen.