Bertolt Brecht: Der gute Mensch von Sezuan

! Dies ist ein alter Text! Was heißt das?

Was ist für die brechtsche Art, Theater zu machen, eigentlich typisch? Und ist das auch schön? Kann man das genießen? Eine Rezension.

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Was denn, was denn! Sie kennen Brecht nicht? Dann wird es höchste Zeit ihn kennen und schätzen zu lernen. Lassen Sie sich endlich einmal von seinen sozialistischen Gleichnissen und seiner ätzenden Gesellschaftskritik berauschen. Erschauern Sie bei der aphoristischen Kraft seiner Lehrgedichte und lernen Sie einen der größten deutschen Dichter des 20sten Jahrhunderts kennen. Ich schlage zur Einführung den Guten Menschen von Sezuan vor.


Der Inhalt dieser dramatischen Parabel ist schnell umrissen. Die Götter haben ein Problem. Unter ihren Augen hat sich (offenbar) eine Welt entwickelt, die von Selbstsucht, Verkommenheit und Verachtung der göttlichen Regeln nur so strotzt. Deshalb heißt es denn in ihrem Beschluss: Die Welt kann bleiben, wie sie ist, wenn genügend gute Menschen gefunden werden. Ihr hoher Anspruch wird jedoch zusammengestrichen, denn letztendlich muss ihnen ein Mensch Genüge sein.

Um nun solche guten Menschen zu finden, ziehen drei Götter umher und gelangen auch ins chinesische Sezuan. Dort werden sie bereits vom glaubenstreuen Wasserverkäufer Wang erwartet und bitten ihn, sich an ihrer statt nach einem Schlafplatz für sie umzusehen. Die Prostituierte Shen Te erklärt sich, nach vielem vergeblichen Nachfragen Wangs bei anderen, bereit die Götter über Nacht aufzunehmen – diese mutmaßen darum, in der Person Shen Te endlich den so lange gesuchten guten Menschen gefunden zu haben. Da sie allerdings von Shen Tes grenzenloser Güte noch nicht vollkommen überzeugt sind, bezahlen sie für die gewährte Übernachtung, um ihr ein gutes Leben auch inskünftig zu erleichtern. Im Zuge der Parabel irrt diese, nunmehr ehemalige Prostituierte, in einer Welt umher, die ihr, bedingt durch Selbstsucht, Habgier und Rohheit der Sitten, den Weg, Güte zu leben, zunehmend versperrt.


Brecht präsentierte uns mit dem Guten Menschen von Sezuan ein Meisterwerk, das mittels einer Fülle feinster Beobachtungen menschlichen Verhaltens unsere Welt in vitro entwirft. Man sollte sich durch das Ansiedeln der Handlung in China nicht täuschen lassen. Die Eigenarten der Figuren und die Beschreibung der Unbilden, denen sie alle auf die ein oder andere Weise ausgesetzt sind, ist auf die Menschheit im Ganzen und all ihre Gesellschaften im Detail übertragbar.

Durch die Figur Shen Te wird offenbar, wie ein Mensch, trotz bester Absichten, von den Umständen der direkten Umwelt am Ausleben seines wahren Charakters gehindert werden kann. So vermag es Shen Te denn auch nicht, dass Menschen aus ihrer Umgebung an ihrer Herzensgüte uneingeschränkt teilhaben können. Sie manövriert sich vielmehr rasant dem Abgrund entgegen, dem sie zuvor, Dank des Geschenks der Götter, entsteigen konnte. Vor dem endgültigen Sturz bewahrt sie schließlich nur noch die wiederholte Verwandlung in ihren fiktiven Vetter Shui Ta. Derart verkleidet kann Shen Te endlich auch Härte gegenüber ihren Mitmenschen ausüben, um sich als Person nicht zu verlieren und die Grundlage, auf die sich ihr neues Leben stützt, (einen Tabakladen) in ihrem Besitz zu behalten.

Dass der gute Mensch also gezwungen ist, vorerst Schlechtes zu tun, anderen Menschen zu schaden, damit er endlich selbst Güte leben kann, soll durch die Zerrissenheit der Figur Shen Tes und das fortwährende Wechseln in die Larve Shui Tas gezeigt werden. Dieses stete Kaschieren mit der Maske von Shui Ta und die Unmöglichkeit, gleich in welcher Figur Shen Te daherkommt, ein wohlaustariertes Verhältnis zwischen Härte und Güte zu erlangen, nehmen die Unentschiedenheit des Schlusses vorweg. Shen Te kann nicht mit ihrer harten Seite – personifiziert in Shui Ta – und nicht ohne diese leben. Die Habgier und Selbstsucht ihrer Umgebung gereicht ihr wieder und wieder zum Stolperstein.

Jeder, der ihr helfen könnte, schadet ihr zugleich. Exemplarisch sei hier der Barbier Shu Fu angeführt. In einem Willkürakt zerschlägt er dem armen Wasserverkäufer Wang eine Hand, welche aufgrund nicht bezahlbarer Arztkosten steif wird und somit seine Existenzgrundlage bedroht. Dennoch kann Shen Te in diesem Fall nicht gegen Shu Fu aussagen und Wang eine Lebensrente verschaffen, da der Barbier sie umgarnt und in einer der vielen auswegsarmen Situationen die einzige noch vorhandene Geldquelle für sie bedeutet. Er kann ihr das Weiterbestehen in ihrer verbesserten Lebenssituation sichern, was Shen Te nicht nur ermöglicht, ein würdigeres Dasein zu führen, sondern auch die Grundlage für ihre täglichen Armenspeisungen und somit eine Verbesserung der Lage ihrer Mitmenschen schafft. Nimmt sie also die Offerte des bösartigen Cholerikers Shu Fu nicht an, verschenkt sie eine Gelegenheit, Gutes zu tun. Nimmt sie Shu Fus Angebot an, hat sie sich erneut regelrecht prostituiert.

Überhaupt ist es immer das Geld, an dem es nahezu allen Figuren in Brechts Stück mangelt und das die Ausweglosigkeiten aller Geschehen versinnbildlicht. In ihm schlägt sich die Abscheulichkeit der dargestellten Egozentrik nieder, die, paritätisch verteilt vom kleinen Bettler bis hin zum Reichsten, im Stück allenthalben zu finden ist. Es wird ferner zum Ausdruck der Schlechtigkeiten im Herzen der einzelnen Figuren und der Unerreichbarkeit eines für alle erträglichen Modus Vivendi. Als Objekt allgemeiner Begierde und Inbegriff der Schlechtigkeit der Welt schwebt es über dem Stück.

Die Götter aber – man mag in diesen Figuren sehen, wen immer man will – können und wollen keine Abhilfe schaffen. Sie präsentieren sich im Zuge der Handlungsentwicklung mehr und mehr als machtlose Tunichtgute, bis sie sich schließendlich nach der das Stück beendenden Gerichtsszene an einem selbstgefälligen Glauben laben, für ihre Menschheit das Beste getan zu haben. Sie vermeinen, dass die Welt beileibe nicht verloren sei, also in ihren Grundfesten nicht geändert werden müsse. Ihre Fahrt in den Himmel wird so nicht nur zu einer Verdeutlichung ihres Nicht-wahr-haben-Wollens, sondern auch zu einer Aufforderung an die Menschen, diese ohn-mächtigen Götter fürderhin getrost zu ignorieren. Am Ende des Stücks steht somit kein Deus ex Machina, der alles zum Guten wendet; Shen Te bleibt vielmehr einsam in Ratlosigkeit und Verzweiflung zurück.

Der Epilog verdeutlicht die Unmöglichkeit, das Stück mit einer konkreten Lehre zu beschließen, in den Versen:

Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen
Den Vorhang zu und alle Fragen offen.

Dies mag vielleicht ein Reflex der Zeitumstände sein, in denen Der gute Mensch von Sezuan entstanden ist. Darüber hinaus ist ein derartiges Ende bei Brecht zugleich auch als programmatisch für seine Dichtung aufzufassen. Der Zuschauer, der Leser möchte doch gefälligst seinen eignen Kopf bemühen und sich auf die Unwägbarkeiten der Welt selbst einen Reim machen. Der Lehrer Brecht eröffnet nur den Zugang zu den Grundlagen der Seinsumstände. Fragen stellen und deren Antworten finden, muss der Rezipient allein. Vorkauer gibt es keine.


Nicht bloß aufgrund des sich darbietenden Tiefgangs dieses Stücks darf man feststellen, dass es sich um ein herausragendes Werk der deutschen Literatur des 20sten Jahrhunderts handelt. Auch die unglaublich gekonnte Machart verblüfft beim Lesen immer wieder aufs Neue. Durch die faszinierend einfache Technik der direkten Ansprache des Publikums vonseiten der Figuren beispielsweise bindet Brecht spielerisch Zeitraffungen und Erläuterungen der situativen Umstände in sein Stück ein, ohne dabei einem Stilbruch zu unterliegen. Durch mehrmaliges direktes Wenden an das Publikum verdeutlicht er im Übrigen auch, wohin sich die Intention seines Stückes wirklich wendet: nämlich an gerade dieses Publikum. Theater ist nicht mehr Selbstzweck, Theater wird zur Lehr- und Lerninstitution.

Ferner angefüllt mit zahlreichen berückend schönen Liedern, tragischem Witz und gleichnishaften Sentenzen wird dieses Drama zu einem Lesevergnügen, das einem die hochgesteckten Ziele, die hinter dem Firnes von Genuss liegen, zielsicher ans Herz legt.


Bleibt also nur noch zu schlussfolgern: Und kennt man Brecht, und kennt man Brecht nicht – den Guten Menschen von Sezuan sollte man in seinem Leben auf jeden Fall kennen gelernt haben.