Erinnerungsort und Selbstverstümmelung
Wie Günter Grass und Joachim Fest sich in die Geschichte der Deformationen einschreiben

Die Autobiographie ist ein Genre, in dem sich der Autor mit einer Unmittelbarkeit selbst hinterfragt wie in keinem anderen. Dieser sehr spezifische Akt der Selbstbefragung kann als Wille und Zwang zur Deformation der eigenen Persönlichkeit und Geschichte interpretiert werden. Dass der gattungsspezifische Hang zur Selbstreflexion nicht nur für den Autor, sondern auch für den Rezipienten Folgen hat, soll an den Autobiographien von Günter Grass und Joachim Fest demonstriert werden.

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Das Problem der Autobiographie ist, dass sie Geschichte schreibt: Individualgeschichte. Hinter ihr steht also immer ein Individuum. Denn Kollektive schreiben sich keine Geschichte, sie bekommen sie allenfalls geschrieben. Und auch das machen Individuen. Absprachen oder Gruppenbildungen sind nur zeitlich befristete Akkumulationen Einzelner. Am Ende steht wie am Anfang: das Individuum. Diejenigen aber, die Geschichte schreiben, sind selbst durch die Geschichte geschrieben. Denn Geschichte ist nicht nur nacktes Faktengerüst, das beschrieben wird, sondern auch selbst wirkende Kraft. Wie die historischen Fakten wirken, hängt wiederum davon ab, wie sie vom Schreiber verwendet werden: […] a fact is like a sack – it won’t stand up till you’ve put something in it.1 Rennt der Schreiber sich also im Kreisverkehr der Geschichte selbst hinterher? Besser ist es, ihn sich auf einem Neutronenstern stehend vorzustellen. Mit dem Stein, den er wirf, trifft er unbedingt den eigenen Hinterkopf. Man muss das Schreiben einer Autobiographie somit als eine Form der Veränderung des eigenen Ichs, wenn nicht gar als eine Form der Selbstverstümmelung bezeichnen. Denn indem der Autor seine Vergangenheit schreibt, schreibt er sich einen Kontext, in dem er sich verortet, indem er sich schreibt. Dieses Konstrukt wiederum lesen andere Individuen, die überall dort, wo es ihnen passt oder wo sie nicht in der Lage sind, selbst zu schreiben, Kontextraub begehen. So erhält die Autobiographie die Potenz, vom Erinnerungsort eines Individuums zur Erinnerungshalde einer ganzen Gesellschaft zu werden.

Die Geschichte der Autobiographie könnte demnach als eine Geschichte der Geschichtsdeformationen beschrieben werden – wobei die Deformationen in zwei Richtungen weisen: auf das schreibende Individuum und den Geschichtsschatz, aus dem sich das rezipierende Individuum bedient. Wenn es um Selbstverstümmelungen auf dem Boden autobiographischen Schreibens geht, fällt einem natürlich sofort Jean-Jacques Rousseau mit seinen großen, zwar literarisch überformten, aber im Kern stark durch persönliches Erleben geprägten Schriften2 ein. Das Stilisieren der eigenen Biographie als Leiden an der ihn umgebenden Gesellschaft wirkte in der Rezeption seiner Texte leidensverstärkend auf Rousseau zurück. Das vollkommene Unverständnis der Rezipienten gegenüber seinen individuellen Wahrnehmungen trieb ihn schließlich immer weiter auf die abfallende Straße aus Paranoia und Vereinsamung: So schloß ich meine Vorlesung, und jedermann schwieg. […] Das war die Frucht, die ich […] erntete.3 Ebenso deutlich sieht man an Walter Benjamins Kindheitserinnerungen4, wie massiv die eigene Geschichte durch sich selbst deformiert werden kann. Die in ihnen versammelten Miniaturen, die vermeintlich unschuldige Rückblicke auf eine längst vergangene Zeit verschriftlichen, werden von der aktuellen Situation des Autors, der das kommende Exil erahnt beziehungsweise schon in ihm lebt,5 infiltriert. Aus seiner Sicht schaffen es die süßen Erinnerungssplitter nie, das Leiden zu verdrängen, das ihm der nazistische Unrechtsstaat zufügte. Wie eine dünne Schicht Pulverschnees legen sie sich über das Jetzt, ohne es ganz verdecken zu können. Darum ist das Motto O braungebackne Siegessäule / mit Winterzucker aus den Kindertagen, das Benjamin seinen Texten voranstellte, auch keins. Es handelt sich um eine Leseanweisung: Sieh! Meine Deformationen!6 Ferner verweist es auf den Benjaminschen Geschichtsbegriff. Denn Benjamin hält Geschichte für den Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet.7 Das Hier und Heute ist ihm der Ausgangspunkt jeder historischen Betrachtung, die notwendig von den aktuell gegebenen (Herrschafts-)Verhältnissen bestimmt ist. Unter dieser Prämisse erscheint es nicht nur legitim, sondern unabdingbar, dass das Exilerlebnis in sein autobiographisches Schreiben hineinwirkt und dieses modifiziert. Benjamins Forderung, der Historiker solle versuchen, den Zwang zum Konformismus8, das heißt, den Zwang der herrschenden Verhältnisse der Jetztzeit, zu überwinden, kontrastiert auf den ersten Blick hiermit. Tatsächlich geht es Benjamin nicht darum, einer vermeintlichen, in der Vergangenheit liegenden Wirklichkeit nachzustellen. Es geht vielmehr um die Bewusstheit, dass ein Einfühlen in die Vergangenheit erstens das Einfühlen in die Geschichte der Sieger (und darum untragbar) ist und zweitens auf dem Boden der aktuellen Umstände (die das Erinnern verformen) geschieht. Der kleine Text Verstecke9 aus Berliner Kindheit um neunzehnhundert beschreibt beispielsweise, wie das Versteck im kindlichen Spiel zu einem Ort wird, der nicht allein unsichtbar macht, sondern auch die Person selbst verändert. Das kindliche Ich verschmilzt beim Versteckspiel derart mit seiner Umgebung, dass es zu einem anderen Wesen wird. Es maskiert sich, indem es sich der Umgebung durch den Akt des Versteckens anverwandelt. Hinter der Tür wird es selbst zur Tür. Allein durch einen dem Finden vorausgehenden magischen Schrei der Selbstbefreiung kann sich der Maskierte demaskieren und wieder zu dem werden, was er zuvor war. Eine allegorische Lesart, die das Versteckspiel des Kindes mit der erzwungenen Emigration des Erwachsenen gleichsetzt, enthüllt Benjamins verzweifelten Versuch, er selbst zu bleiben. Denn Vergangenes historisch artikulieren heißt […], sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt.10 Seine autobiographischen Texte, die eine längst versunkene Zeit beschwören, erscheinen so gelesen als ein magisches Ritual, das vor den Deformationen des Jetzt zu schützen verspricht. Aber auch als vergeblicher Versuch, sich vor der Verzweiflung einer misslungenen Flucht, die in den Selbstmord mündete (1940), zu immunisieren.

Um die deformative Kraft, die der Nationalsozialismus entfalten konnte, geht es auch in zwei Autobiographien, die im Sommer und Herbst 2006 erschienen sind: Beim Häuten der Zwiebel von Günter Grass und Ich nicht von Joachim Fest. Die beiden Texte sind nicht nur als Grundlage für eine Strukturanalyse autobiographischen Schreibens hervorragend geeignet. Reizvoll sind sie auch deswegen, weil in den letzten Jahren in zunehmendem Maße Meinungen geäußert werden, die natio… Entschuldigung: patriotische Gefühle vom Ruch des Verpönten mit aller Gewalt zu befreien versuchen.11 Dass die neue Bürgerlichkeit Fests Erinnerungen Vorbildfunktion zusprechen und Grass’ allzu langes Schweigen zum erneuten Anlass der Verdammung des politisch linksgerichteten Mahners und Warners nutzen würde, wäre nicht weiter verwunderlich. Entscheidend scheint mir, dass die Memoiren von Grass und Fest als Anschauungsbeispiele dafür dienen können, zu welcher Größe sich das Geschwür des Nationalismus auswachsen und wie tiefgreifend er das Individuum verändern kann. Da die Texte in der Erfahrung des Nationalsozialismus in vielen Punkten gegensätzlich sind, werfen sie auch ein Licht auf die Tatsache, dass ein und dasselbe Phänomen nicht notwendigerweise ein und dieselbe Konsequenz zeitigen muss: Der eine (Grass) ließ sich zum Beischlaf mit dem System verführen, der andere (Fest) blieb den Nazis in dieser Hinsicht vollkommen unzugänglich. Besonders augenfällig ist allerdings in beiden Fällen die Kraft, mit der der Kettenhund des extremen Nationalismus an ihnen zerrte, und die Intensität, mit der er ihre Biographien verformte.


»Beim Häuten der Zwiebel«, Buchcover
Günter Grass: Beim Häuten der Zwiebel, München: dtv 2008. (Bildquelle)

Wie eng der Erinnerungsort der Autobiographie mit Deformationen der persönlichen und gesellschaftlichen Geschichte verschränkt ist, zeigt sich an der Rezeption von Grass’ Erinnerungsbuch Beim Häuten der Zwiebel12. Anfang August 2006, kurz bevor es erschien, gab Grass der F.A.Z. ein Interview13, in dem erstmals ein Detail aus seinem Leben allgemein bekannt wurde, das er der breiten Öffentlichkeit bislang vorenthalten hatte: seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS. Dies führte zu mitunter erhitzten Diskussionen in den deutschen Feuilletons als auch zu durchaus humorvollem Spott nach dem Muster, nun verstehe man endlich, warum Grass sich schon vor der Rechtschreibreform mit Doppel-s geschrieben habe. Grass war sich der Problematik seines allzu langen Schweigens in dieser Sache offenbar bewusst, gibt er doch unumwunden zu: Das mußte raus, endlich. Angesichts der Tatsache, dass er nie einen Hehl daraus gemacht hat, in seiner Jugend glühender Anhänger des Nationalsozialismus gewesen zu sein, erscheint dieses Geständnis auf den ersten Blick unbedeutend. Interessant ist es gleichwohl, weil das bewusste Verschweigen mit einer konventionalisiert heftigen Ablehnung der SS in der bundesdeutschen Erinnerungskultur zusammenfällt. In ihrer Heftigkeit verständlich, war die Waffen-SS doch neben den SS-Totenkopfverbänden unmittelbar für die Bewachung der Konzentrationslager und somit auch die Schoah verantwortlich, ist ihre Verdammung, die über die anderer genuin nationalsozialistischer Institutionen und solcher, die sich einspannen ließen, noch hinausreicht, in ihrer Absolutheit doch ein wenig selbstgefällig. Im Hintergrund dieser Qualifizierung schlummert nämlich noch immer die in der historischen Forschung längst ad acta gelegte Vorstellung einer Dichotomie gute Wehrmacht contra böse SS. Oder allgemeiner: die Vorstellung, die einen Nazis seien weniger barbarisch als die anderen gewesen. Darum scheint es in diesem Zusammenhang nicht unangemessen, daran zu erinnern, dass das offizielle Staatsgedenken an den Widerstand im Dritten Reich ganz besonders den Verschwörern des 20. Juli 1944 und somit Männern gilt, die keinesfalls durchweg demokratisch gesinnt waren und sich gläubig und willig an einem Angriffskrieg beteiligt hatten, den sie lange Zeit für gerechtfertigt hielten. Ferner sollte bedacht werden, dass es auch in den Fünfzigerjahren noch weit verbreitete Meinung war, diese Hitler-Attentäter hätten Hoch- und Landesverrat begangen. Sich angesichts dieser konservativen Stimmung wie Grass aufs Podium zu stellen und mutig zu erklären, man habe gefehlt, war in dieser Zeit und auch noch in den Sechzigerjahren nicht gerade en vogue. Fiel dieser Schritt schon schwer, musste der des Bekennens einer Mitgliedschaft in der SS noch schwerer fallen. Und trotzdem: Gerade weil die SS so eng mit dem Verbrechen der Schoah verquickt ist, wirft die ehemalige Mitgliedschaft von Grass einen dunklen Schatten auf seine Biographie – zumal die Schoah ein, wenn nicht gar das zentrale Ereignis ist, an dem sich das politische Geschichts- und Selbstverständnis der Bundesrepublik ausrichtete.

An seinem erst jetzt erwähnten Makel wird überdeutlich, welche Folgen das autobiographische Bekennen nach sich ziehen kann. Denn sein verspätetes Geständnis affiziert sowohl Grass selbst, dessen oft moralisierendes Auftreten wiederholt an der eigenen Vita gemessen und darum auch infrage gestellt wurde, als auch den Teil der Gesellschaft, der sein Selbstverständnis an Überzeugungen und Wirken des Nobelpreisträgers ausrichtete. Grass als moralische Instanz, auf die man sich guten Gewissens berufen konnte, droht die Demontage. Um genau zu sein: Selbstdemontage. Natürlich wird der Kontext, in dem die SS per Konvention bisher gesehen wurde, durch diese singuläre Modifikation nicht grundlegend verändert. Die im Zuge des Geständnisses aufbrausende Diskussion14 zeigt aber, dass ein derartiges Faktum die Gemüter auch deswegen erhitzt, weil die Lesart exemplarischer Biographien für das Selbstverständnis einer Gesellschaft unverzichtbar ist. Die zu einem Gesellschaftsverband gehörenden Individuen benötigen Kontexte, in denen sie sich begreifen können. Der leicht veränderte historische Kontext, in dem Grass sich von nun an verortet, führt zu einer Veränderung der Rezeption seiner Person und so, mittelbar, der gesellschaftlichen Wahrnehmung des Nationalsozialismus – ganz gleich wie gering diese Modifikationen auch ausfallen mag. Eine solche Veränderung deutet sich in einer Äußerung Arnulf Barings gegenüber der Berliner Morgenpost anlässlich der Grass-Kontroverse bereits an15: Das Bild des Dritten Reiches muss in dem Sinne zurecht gerückt werden, als man die damaligen Sichtweisen, die damaligen Möglichkeiten stärker berücksichtigen muss, konstatiert Baring. Nicht jeder, der in der NSDAP oder gar der Waffen-SS war, muss deshalb verbrecherische Ziele verfolgt haben. Darauf, dass man aus dem späten Bekenntnis von Günter Grass auch andere Folgerungen ziehen kann, verweist hingegen eine Äußerung Martin Walsers. Er macht unser Bewältigungsklima mit seinem normierten Denk- und Sprachgebrauch16 dafür verantwortlich, dass Grass sich nicht eher geäußert habe. Welche Folgen ein solches Klima haben kann, musste Walser in der Folge seiner Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandel von 1998 am eigenen Leib erfahren.17 Ohne auch nur im Mindesten den Nationalsozialismus oder das Verbrechen der Schoah zu verharmlosen,18 prangert er den ritualisierten und darum entleerten Umgang mit dem Holocaust an. Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung. Was durch Ritualisierung zustande kommt, ist von der Qualität des Lippengebets. Die Selbstgefälligkeit, mit der sich die zementierte Erinnerungskultur Deutschlands in der Folge dieser Äußerungen einmal mehr in ihrem Sündenstolz (Hermann Lübbe) sonnte, ist hier nicht weiter von Interesse. Bemerkenswert jedoch ist, dass Walsers Fall denselben Prozess in Gang setzte, wie man ihn rund acht Jahre später bei Grass beobachten kann: Die Selbstoffenbarung wirkt sowohl auf ihn in Form einer Selbstverstümmelung als auch auf die Rezipienten zurück, die sich gezwungen sehen, ihre Wahrnehmung vom politisch linksgerichteten Walser zu überdenken. Die anschließende Diskussion führt zu einer Revision des historischen Kontextes, auf den sich das rezipierende Individuum bezieht. Diese Revision muss nicht notwendigerweise grundlegend verändernd wirken, sie kann auch bisherige Sichtweisen verstärken. Modifizierend ist sie in jedem Fall.

Dass diese (auch hier) ausufernde Diskussion dem Buch von Grass in keiner Weise gerecht wird, wird zumeist geflissentlich ignoriert. Denn Grass hat zum einen keinen Text über seine Zeit im Nationalsozialismus geschrieben – der Nationalsozialismus ist bereits deutlich vor der Hälfte des Bandes passé –, sondern einen über sein Leben vom Kriegsausbruch bis zum Erscheinen der Blechtrommel (1959). Seine Jugenderfahrungen im Nationalsozialismus und das Fronterlebnis als SS-Angehöriger spielen dabei zwar eine bedeutende Rolle; die Zeit im Kriegsgefangenenlager, im Männerwohnheim der Caritas, während der Steinmetzausbildung, an der Universität usw. ist jedoch zumindest gleichgewichtet. Zum anderen differenziert er in einem weit höheren Grade, als es in den mitunter empörten Reaktionen und Forderungen auf sein SS-Geständnis der Fall war. Die Autobiographie ist unter seiner Hand nämlich nicht etwa eine Textgattung, die Fakten aneinanderreiht und dadurch eine in Textkleider gehüllte Person (so, wie sie ist) zur allgemeinen Begutachtung auf den Präsentierteller setzt. Die Autobiographie ist ihm vielmehr etwas, dem man mit einem gerüttelt Maß an Unsicherheit gegenüberzustehen hat. Darauf deutet schon die Form des Textes, in der Grass die Chronologie der Ereignisse immer wieder aufsprengt und sich eines literarisch-belletristischen Duktus und nicht eines historisch-erzählenden bedient. Wir beschönigen, dramatisieren, lassen Erlebnisse zur Anekdote zusammenschnurren, konstatiert er im F.A.Z.-Interview. Und all das, also auch das Fragwürdige, das alle literarischen Erinnerungen aufweisen, wollte ich schon in der Form durchscheinen und anklingen lassen. Diese Methode der literarischen Überformung des eigenen Lebens führt dazu, dass einerseits so manches biographische Faktum im Unklaren bleibt und andererseits so manche Anekdote offenkundig der blühenden Fantasie des Schriftstellers entsprossen ist. Beispielsweise die Begegnung mit dem etwa gleichaltrigen Joseph im Kriegsgefangenenlager, einem Ratzinger-Wiedergänger, der aus der Gegend von Altötting stammt und sich überaus katholisch-dogmatisch gibt: Joseph, du willst wohl Großinquisitor werden oder noch höher hinaus. (S. 217) Solche literarischen Inszenierungen und Anspielungen ermöglichen dem Leser, trotz aller Ungewissheiten19 ein weit höheres Maß an gedanklicher Anknüpfung als eine strikt chronologische, an auf Hochglanz polierte Tatsachen orientierte Nacherzählung. Indem die Vita des Autors nicht einziges Thema bleibt, sondern das Schreiben derselben zum Metathema avanciert, erweitert sich automatisch der Bezugsrahmen des Erzählten. Grass schreibt nicht an einem amtlichen Faszikel, das im Archiv wühlende Historiker, die mit einem veralteten Methodenrepertoire ausgestattet sind, später für den kodifizierten Niederschlag von Wahrheit halten können. Die Unsicherheit des Erzählers hat sich tief in den Text hineingefressen. Die Frage, ob das überhaupt sein Ich ist, das er da beschreibt, bildet die Basis seiner Schreibhaltung. Seine Unsicherheit beschränkt sich dabei keineswegs auf das ungläubige Staunen über seit Jahrzehnten abgelegte Überzeugungen. Grass geht hier weiter. Es scheint ihm nämlich viel eher ein behauptetes, doch immer wieder im fiktionalen Gestrüpp verschwindendes Ich (S. 39) zu sein, über das er schreibt – ein Ich, im Dickicht anderen Seins verwoben, verborgen, versteckt.

Diese Problematik transportiert schon der metaphorische Titel Beim Häuten der Zwiebel, den Grass bewusst wählte, um sie, die Problematik, in einem Bild zu fassen: Jede Zwiebelhaut bedeckt die unter ihr liegende Schicht. Diese wird durch das Schälen befreit, sichtbar. Dabei ist es oft nötig mehrere verhärtete, undurchsichtige Hautschichten zu entfernen. Das kostet Zeit, denn durch das Entfernen einiger weniger Schichten ist man noch nicht zum Innersten vorgedrungen. Immer weiter müsste man die Zwiebel häuten, sie Schale um Schale abtragen, um auf den Kern zu stoßen. Und dann, wenn man die letzte Schale entfernt hat, steht man vor einem Nichts, die Zwiebel ist verschwunden. Dieses Bild, das man deutend gleichsam in den Raum kafkaesker Verzweiflung treiben kann, steht sowohl für die Schwierigkeiten, denen Grass sich beim Schreiben der eigenen Biographie gegenübersieht: nämlich dem bereits besprochenen Problem, dass sich das Wesen, das er zu fassen versucht, hinter verschiedenen mal mehr, mal minder durchsichtigen Häuten verbirgt, also im Ungefähren bleibt. Selbst wenn die äußersten Schalen der jüngsten Vergangenheit, der deformierenden Veränderungen, die es erfahren hat, entfernt werden, um ihm näher zu rücken, kann man es doch nicht greifen, so wie es wirklich war, weil unklar bleibt, was das ist – wirklich. Das Bild steht darüber hinaus für die große Bedeutung der Speisemetaphern in Grass’ Werk. Denn in der Verwendung dieser Metaphern ist er heikel, und zwar in der fast schon verlorenen Bedeutung des Wortes: wählerisch (im Essen). Darum geht auch seine Autobiographie, wie so viele seiner Bücher, durch den Magen. Obwohl mitunter allein die Freude an der synästhetischen Erfahrung des Beschreibens einer Mahlzeit vorzuliegen scheint, steht das kulinarische Bild doch sehr, sehr häufig nicht nur für sich selbst. Grass’ Gespräche übers Essen können durchaus Ungenießbares zum Gegenstand haben. Das Gedicht Worüber ich schreibe20 (1983) erhellt, was alles mitgemeint sein kann, wenn es vordergründig nur ums Essen geht:

Worüber ich schreibe

Über das Essen, den Nachgeschmack.
Nachträglich über Gäste, die ungeladen
oder ein knappes Jahrhundert zu spät kamen.
Über den Wunsch der Makrele nach gepreßter Zitrone.
Vor allen Fischen schreibe ich über den Butt.
 
Ich schreibe über den Überfluß.
Über das Fasten und warum es die Prasser erfunden haben.
Über den Nährwert der Rinden vom Tisch der Reichen.
Über das Fett und den Kot und das Salz und den Mangel.
 
[…]
 
Über uns alle am leergegessenen Tisch
werde ich schreiben;
auch über dich und mich und die Gräte im Hals.

Über das Essen zu schreiben, heißt über den Esser und alles, was ihn berührt, zu schreiben. Die Speise erhält metaphorische oder symbolische Prägnanz. So ist die kulinarische Bildsprache, die seiner Autobiographie zur Überschrift wurde, als Verweis auf all das gemeint, was zunächst unzugänglich ist, einem die Tränen in die Augen treibt oder im Halse stecken bleibt – und dazu gehört, unter anderem, auch die nazistische Ideologie, die er als Jugendlicher begeistert teilte, noch in der Kriegsgefangenschaft.

Während Grass im Kriegsgefangenenlager interniert ist, werden von den Lagerinsassen Kurse organisiert. Dass man versucht, in den Kursen gegen den Hunger und dessen inständiges Nagen (S. 199) anzukämpfen, verweist darauf, dass die Beschreibung dieser Beschäftigungen sich nicht in sich selbst erschöpft, sondern in einem weiteren Rahmen zu sehen ist. Tatsächlich dienten die Kurse nicht nur dem Zeitvertreib oder Vergessen des Hungers. Sie waren mitunter durchaus praktisch orientiert und somit auf die Zukunft gerichtet: Womöglich hat man dort erste Gewinnspannen des späteren Wirtschaftswunders als Profitmaximierung errechnet (S. 201). Auch der hungernde Grass belegte einen Kurs, den eine ins übliche Militärzeug gekleidete Apostelgestalt mittleren Alters, die von ihren Schülern Chef genannt werden wollte (S. 202), gehalten hat. Grass belegte einen Kochkurs für Anfänger.

Heute, bittscheen, nehmen wir Schwain durch, sagte der Meister einleitend und umriß auf der Schultafel mit knirschender Kreide und sicherem Strich die Konturen einer ausgewachsenen Sau. Dann zerteilte er das auf schwarzer Fläche dominierende Borstenvieh in benennbare Teile, die römisch beziffert wurden. Nummer eins is Ringelschwänzchen und kennt uns schmecken gekocht in geweenliche Suppe von Linsen… (S. 204)

Die Episode ist witzig und klingt wie aus einem seiner Picaroromane herausgelöst. Hinter dem seitenlangen Räsonieren über die Möglichkeiten, ein Borstenvieh in der Küche zu verarbeiten, steht jedoch mehr als pures Vergnügen an der Vorstellung. Die absurde Beschäftigung, einen Kochkurs zu besuchen, ohne dabei kochen oder essen zu können, dafür wie nie zu hungern, wird zu einer Parabel auf die Zeit im Kriegsgefangenenlager, zu einem Bild für den Übergang, in dem er und seine Mitgefangenen sich befinden. Die Erinnerung an den Kochkurs ist zugleich Verlusterfahrung und Vorausschau auf Zukünftiges, greift Grass doch selbst auf, welche Vorlieben und Metaphern er aus dieser Erfahrung gewinnen und später literarisch verarbeiten konnte. Im Untergang begriffen sind hingegen die Gewissheiten, denen man vor dem Krieg noch willfährig folgte. Diejenigen, die keine Kurse belegen, sind noch im Damals gefangen: Lamentierend gefielen sie sich als Besiegte und weinten verlorenen Schlachten nach. Einige glaubten sogar, im Verlauf von Sandkastenspielen nachträgliche Siege […] erringen zu können. (S. 199) Der Wille, den Hunger zu verdrängen, wird hingegen zu einer Chiffre für die Bereitschaft, das Gestern hinter sich zu lassen. So wird diese Episode zu einer Verbildlichung der Umkehr, zu einem Ort, an dem sich das verlorene Gestern und die noch nicht gewonnene Zukunft treffen. Die Erkenntnis, wie und wo man fehlte, hat sich noch nicht eingestellt. Wie dem Hunger kann der Schuld und der ihr folgsamen Scham nachgesagt werden, daß sie nagt, unablässig nagt; aber gehungert habe ich nur zeitweilig, die Scham jedoch… (S. 221)

Im Gespräch mit Ulrich Wickert21, antwortet Grass auf die Frage, warum er erst jetzt über seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS (die Scham) rede, unter anderem damit, dass sich das Geständnis erst jetzt ergeben habe, indem er seine inneren Widerstände überwunden habe, überhaupt autobiographisch zu schreiben. Diese Bemerkung lässt aufhorchen. Denn die bisherigen Bücher des Autors drehen sich alle um sehr persönliche Erfahrungen, das eigene Erleben flackert in ihren Erzählungen immer wieder auf. Ob es nun Jan Bronski aus der Blechtrommel ist, der bei Kriegsausbruch die polnische Post verteidigte (Grass’ Onkel Franz); ob es das Dichtertreffen von 1647 in Das Treffen in Telgte ist, das als Schlüsselerzählung auf die Gruppe 47 gelesen werden muss (Grass war Mitglied der Gruppe); oder ob es die Thematisierung der Vertreibung der Deutschen nach Kriegsende in der Novelle Im Krebsgang ist (Grass’ Familie wurde auch vertrieben), überall lassen sich biographische Anknüpfungspunkte an sein Leben finden, die bis weit in die Details der erzählten Welten hineinreichen. So gelesen lassen sich seine Schriften als ein permanentes Schreiben an der eigenen Person verstehen, als eine permanente Revision, die das schreibende Subjekt an dem beschriebenen Objekt vollzieht. Beim Häuten der Zwiebel ist ein weiterer Baustein in dieser fortwährenden Neusichtung seiner selbst, der sich Grass zeitlebens unterzog. Dass es sich hierbei um dezidiert autobiographisches Schreiben handelt, verdeutlicht stärker als alle Anspielungen in Romanen und Erzählungen, dass Grass’ Schreiben immer auch seine Person betrifft. Hinzu kommt, dass die Autobiographie ein Ort ist, von dem aus dieses Sich-selbst-Schreiben viel stärker als aus seinen rein fiktionalen Texten auf ihn zurückwirkt. Die heftige Diskussion als Folge seines Erinnerungsbuches zeigte dies deutlich.


»Ich nicht«, Buchcover
Joachim Fest: Ich nicht. Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006. (Bildquelle)

Die Autobiographie Ich nicht22 sollte Joachim Fests letztes Buch sein. Erschienen ist es im September 2006, dem Monat, in dem er starb. Es kommt nicht von ungefähr, dass Fest sich in ihr auf jenes Zwölfjährige Reich beschränkt, das sich zwischen 1933 und 1945 tausendjährig gab. Es kommt nicht von ungefähr, sollte ihm diese Zeit doch zum Lebensthema werden: Für den RIAS verfasste Fest in den Fünfzigerjahren eine große Featureserie über den Weg Deutschlands in die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs; 1973 veröffentlichte er seine berühmte Hitler-Biographie – ein Standardwerk von monumentalen Ausmaßen, das in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde; 1977 produzierte er zusammen mit Christian Herrendoerfer einen großen Dokumentarfilm über Hitlers Aufstieg und Fall; als Leiter des Feuilletons der F.A.Z. bot er Ernst Nolte 1986 die Möglichkeit, den Essay zu publizieren, der den Historikerstreit einleitete; mit dem Buch Der Untergang lieferte er 2002 die Vorlage für den gleichnamigen Kinofilm. Die Liste ist unvollständig. Das Dritte Reich hielt ihn, der sich am liebsten vornehmlich mit der Zeit der Renaissance beschäftigt hätte, gefangen. Ihm wurde aus der abscheulichen Zeitgeschichte eine Lebensaufgabe (S. 352).

Folgerichtig beschäftigt Fest sich auch in seinen Erinnerungen nahezu ausschließlich mit seiner Jugend im Nationalsozialismus, dem Scharnier, um das sich sein Leben drehte. Die faschistische Machtergreifung von 1933 ist dabei ein Schlüsselerlebnis. Denn sein Vater, Leiter einer Volksschule, wird bereits im April 1933 aus politischen Gründen – Zugehörigkeit zur Zentrumspartei und zum Reichsbanner, öffentlich herabsetzende Reden gegen den Führer usw. (S. 54–55) – von allen dienstlichen Aufgabe zunächst suspendiert, später (im Oktober) endgültig entlassen. Im Folgenden wird diese Vaterfigur, die in Fests Memoiren gleichsam die zweite Hauptrolle spielt, (gewiss zu Recht) zu einem Heros des Widerstands23: Johannes Fests Einstellung gegenüber dem Nationalsozialismus blieb allen Schwierigkeiten zum Trotz konsequent ablehnend. An diesem Widerstandsgeist orientierte sich der junge Joachim Fest. Darum folgen nun auch die oft beschriebenen Probleme, denen sich ein oppositioneller Jugendlicher gegenübergesehen hat – unter anderem sein Schulverweis. Schließlich schildert Fest seine Zeit als Luftwaffenhelfer, im Arbeitsdienst, in der Wehrmacht und in der Kriegsgefangenschaft. Über die Nachkriegszeit: nur wenig, dafür Invektiven, die sich gewaschen haben (s. u.). Ein Buch über die Erlebnisse im Nationalsozialismus also. Eine Bemerkung die Fest gegenüber dem stellvertretenden Intendanten des RIAS in den Fünfzigerjahren gemacht haben will, als dieser ihn zu überreden versuchte, die erwähnte Featureserie zu schreiben, lässt allerdings aufhorchen: Zwar hätte ich mehrere Vorlesungen bei […] bekannten Historikern besucht, schreibt Fest, die Zeitgeschichte jedoch nach Möglichkeit vermieden. Sie habe mich nie hinreichenden interessiert. (S. 350) Tatsächlich muss man bei genauerem Hinsehen konstatieren, dass in seiner Autobiographie zwischen den Zeilen ein Thema hindurchschimmert, das, wenn man die plötzlich überraschend dünne Schicht des Nationalsozialismus entfernt, zum zentralen Gegenstand des Textes avanciert. Das immer wieder hervorgehobene Leiden an seiner Umwelt bündelt Fest nämlich in der Überzeugung, dass der Nationalsozialismus dem alten Bildungsbürgertum den Todesstoß versetzt habe. Und genau das ist sein eigentlicher Gegenstand: das Ende von etwas, das schon zuvor kränkelte – das Ende des Bildungsbürgertums. Ein Thema, das fürwahr über den Horizont der Zeitgeschichte hinausreicht.

Diese Lesart lässt die Figur des Vaters, die Fest zu seinem zentralen Identifikationspunkt erhebt, der seine Geisteshaltung sowohl in ästhetischen als auch moralischen Fragen bestimmt, in einem anderen Licht erscheinen. Sie wird zur Personifikation des Bildungsbürgertums, das in gleicher Weise positiv bewertet wird wie der sich der Barbarei widersetzende Vater selbst. Diese positive Wertung und ihre Verteidigung gegen negative Sichtweisen ist nicht nur auf die Zeit des Nationalsozialismus, sondern im selben Maße auch auf gewisse Strömungen in der Kultur im Nachkriegsdeutschland bezogen:

Zwar stand der Begriff [des Bildungsbürgertums] zu jener Zeit noch nicht in dem Verruf, der ihm inzwischen anhaftet. Aber ein altmodisches Wesen meinte das Wort damals schon. Nach den Nazijahren ist das Bildungsbürgertum zu einer der hauptschuldigen Gesellschaftsmächte für den Aufstieg Hitlers gemacht worden; dem genaueren Blick allerdings spiegelt die Anklage lediglich das Ressentiment verwöhnter Kinder, die darauf aus waren, sich moralisch über ihre Eltern zu erheben und alle Bildung als unnütze Anstrengung zu verleumden. (S. 31–32)

Wann immer Fest also seinen Vater zu einer hehren Lichtgestalt stilisiert, ist damit nicht nur das Individuum selbst, sondern auch dieses ominöse Bildungsbürgertum gemeint. Das empörte Ich nicht, das Fest seinem Text voranstellt, gilt somit nicht allein der unumstrittenen Tatsache, dass es nicht genug Menschen gab, die sich dem Nazistaat so verweigerten wie er und seine Familie. Es ist auch als Erinnerung an eine verlorene Gesellschaftsschicht zu verstehen, die er als ebenso geschmackssicher wie prinzipienfest begreift. Sein Ich nicht transportiert darüber hinaus eine Verweigerungshaltung, die sich auf kulturelle Bewegungen der Nachkriegszeit bezieht. Fest versteht sich dabei nicht ausschließlich als Bewahrer in einem politischen Sinn, der ihm linksgerichtete Personen suspekt erscheinen ließ. Ihm geht es immer auch um ästhetische Dinge, sind für ihn doch beide Bereiche untrennbar miteinander verwoben. Ein Verächter humanistischer Bildung hätte von Fest nur Unverständnis geerntet; schmuddelige Vertreter einer Pop-Kultur wie Russ Meyer, Charles Bukowski oder Sid Vicious dürften ihm gänzlich unbekannt geblieben sein. Die Welt der väterlichen Bücher ist die Welt der klassischen Bildung, ist die Welt einer politisch konservativen Haltung, ist die Welt des von Joachim Fest hochgehaltenen Bildungsbürgertums, ist die Basis seiner Wert- und Moralvorstellungen.

Mein Vater liebte die Bücher. Sein Stolz war die chronologische Goethe-Ausgabe des Propyläen Verlages […]. Daneben standen die Schriften von Lessing bis Heine, natürlich Shakespeare und vieles andere bis hin zu dem bewunderten Fontane […]. In der wissenschaftlichen Abteilung gab es zwei oder drei Regale theologischer Literatur, ihn beschäftigten Fragen des Gottesbeweises, die Anstöße Luthers für die Entwicklung der deutschen Sprache, im Nebenschrank stand die Literatur über die preußische Geschichte, zumal die Zeit der Reformer, ferner Werke über das christliche Menschenbild oder die Ausbreitung des Glaubens in den entferntesten Weltgegenden. (S. 32)

Hier finden sich die Konstanten, die das ganze Leben von Fest bestimmten, oder – um meine negative Terminologie zu verwenden – die Lesarten, die seinen Erinnerungsort und dadurch seine Vita deformierten und zu dem machten, was sie war. Hier findet sich die Trauer um etwas, das längst zugrunde gegangen ist, die Trauer um etwas, das seine negative Seite, die Fest nicht wahrhaben wollte, überdeutlich gezeigt hat. Es ist das Leiden daran, dass der Schlächter Heydrich Geige spielte, dass Buchenwald und Weimar zusammengedacht werden müssen, dass das von einer Französin (Germaine de Staël) entworfene und dankbar übernommene Bild einer Nation der Dichter und Denker die Deutschen am Töten im industriellen Maßstab, mit industriellen Mitteln nicht hindern konnte. Fest fragt sich, wie es möglich war, ein altes Kulturvolk wie die Deutschen um den politischen Verstand zu bringen? (S. 341) Die Antwort ist überraschend schlicht und dabei bezeichnend: Einmal hörte ich meinen Vater sagen, die Deutschen seien nicht mehr deutsch: Sie haben ihre grüblerische Leidenschaft verloren und ihre Vorliebe fürs Primitive entdeckt. Nicht der nachdenkliche Gelehrtentyp des 19. Jahrhunderts ist, wie er es gewesen war, ihr Vorbild. (S. 341) Das ist die Summe von Fests Erinnerungen: Die Deutschen sind nicht mehr deutsch! Das ist der Niederschlag seiner zutiefst konservative Haltung, die sich nicht damit abfinden kann, dass die Moderne alle klar fixierten Gesellschaftsschichten hinweggefegt hat, dass das Modell des Bildungsbürgertums endgültig gescheitert ist. Alle Gewissheit darüber, was schön ist, was richtig ist – perdu. Die Dialektik der Aufklärung hat sie hinweggefegt. Die Vollendung der Aufklärung durch das selbstherrliche Subjekt, so Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, habe in der Herrschaft des blind Objektiven, Natürlichen gegipfelt. Diese Tendenz ebnet alle Gegensätze des bürgerlichen Denkens ein, zumal den der moralischen Strenge und der absoluten Amoralität.24 Der aus einer solch hypertrophen Vernunft entsprungene irrationale Antisemitismus kann als Folge dieser Entwicklung verstanden werden. Die Feststellung, dass die Gegensätze von Moral und Amoral sich in der Ideologie des Nationalsozialismus nivellierten, würde Fest teilen. Mit der geforderten Konsequenz der Philosophen, einer radikalen Kulturkritik, könnte er sich nicht anfreunden. Für ihn sind sie noch da, die absoluten Werte, für ihn sind sie nicht hinter der falschen Klarheit des Mythos, in der unkritischen, nur noch affirmativen Wirkung einer abgegriffenen Sprache verschwunden. Er will bewahren, konservieren. Seine Schreibhaltung, die so grundsätzlich von der abweicht, die Grass sich wählte, ist dafür ein beredter Ausdruck. Mit ihr, die sich am Konkreten orientiert, versucht er, die abhandengekommene Gewissheit wiederzugewinnen. Die strikte Chronologie, die er für die Beschreibung seines Jugendlebens wählt, wird zu einem Bild für die versuchte Geradlinigkeit seines Denkens und Handelns. Der von ihm gewählte Stil autobiographischen Schreibens ist Materialisationspunkt der Trauer über den Verlust des Richtigen.


Die Bücher von Grass und Fest sind Antipoden in vielerlei Hinsicht. Ist es bei Grass die Verehrung der Mutter, die den Text von der ersten bis zur letzten Seite durchzieht, so ist es bei Fest der heroisierte Vater, dem seine ganze Bewunderung gilt. Schreibt Grass ein vielschichtiges, wunderbar gestaltetes und immer wieder überraschendes Buch, definitiv sein bestes seit langer Zeit, ist Fests Text oft zäh und dröge, befasst sich bei ungefähr gleicher Länge monoman mit der Zeit des Nationalsozialismus und ist dabei in höchstem Maße unleidlich und allzu wenig durchdacht. Unleidlich, weil er immer noch heftig bedauert, dass nicht Menschen wie er, die immerhin von Anbeginn Antifaschisten waren, zum moralischen Gewissen Nachkriegsdeutschlands aufsteigen konnten, sondern zweifelhafte Figuren wie der namentlich erwähnte Günter Grass25 und der hinter einer Anekdote verschwindende Jürgen Habermas26; allzu wenig durchdacht, weil die Bedingungen, die ihn zum Antifaschisten prädestinierten, nicht ausreichend reflektiert und die Unwägbarkeiten autobiographischen Schreibens auf das Verschwinden des Konkreten aus der Erinnerung reduziert werden: Wie hieß der Deutschlehrer des Leibniz-Gymnasiums, der meinen Weggang vor der Klasse bedauerte? Wie klangen die Bemerkungen, mit denen Dr. Meyer mich bei meinem letzten Besuch zur Tür geleitete […]? Erlebnisse, Worte, Namen: alles verloren oder im Abgang befindlich. (S. 9) Fest versäumt es, aus dem Verlust einen Gewinn zu machen. Manch ein Erinnerungssplitter verbirgt sich in seinem Text in einer Aufzählung, wodurch er natürlich keinerlei Substanz gewinnt. Ein Beispiel: Fest sammelte witzigerweise dieselben Zigarettenbildchen mit miniaturisierten Kunstwerken, die auch Grass so liebte. In Grass’ Erinnerungen wird die Sammelleidenschaft derart plastisch, dass er sie unbeschwert zu einem Initiationsort für das Interesse an klassischer Kunst stilisieren und durch den ganzen Text immer wieder aufgreifen kann. Bei Fest hängt dieses Detail wie viele andere im Leeren. Man muss sogar sagen: Er ist schon aufgrund seiner Schreibhaltung nicht in der Lage, solchen Details Plastizität zu verleihen. Deutliche Erinnerungen sind hingegen Selbstvergewisserungen einer bildungsbürgerlichen Grundüberzeugung: diese Bücher habe ich gelesen, diese Symphonien und Opern gehört, diese Gespräche über Literatur und Kunst geführt. In Grass’ Text bleibt dementgegen oftmals unklar, ob sich ein Erinnerungsrest nachträglich zu einem romanhaft inszenierten Symbol aufgeschwungen hat oder ob hinter ihm eine authentische Erfahrung steht. Das Verständnis autobiographischen Schreibens ist bei Grass eines, das solche Ungewissheiten zu ertragen vermag. Die bewusst unscharfe Form, die Grass für seine Autobiographie wählt, fußt zwar auf derselben Erfahrung: dem Verlust von konkret Greifbarem aus der Kindheit. Er wendet diesen Verlust aber im Gegensatz zu Fest positiv, indem er selbst vermeintliche Gewissheiten infrage stellt und so einen deutlich höheren Reflexionsgrad als jener erreicht.

Jenseits solcher Differenzen gibt es auch Gemeinsamkeiten: Beide treffen sich im Antifaschismus, beide schreiben Autobiographien, die in je besonderer Weise verformt sind: dort fehlt die Erinnerung, hier der Zugriff auf das, was man Wahrheit nennt; hier prägte der Faschismus einen Mahner wider alle Konservatismen, dort bestärkte er den Schreiber, die zerschlissene Fahne des Wahren, Schönen, Guten noch einmal hochzuhalten. Der Faschismus war für beide demnach nur die Basis, auf die sie ihr erwachsenes Leben stellten: Der eine (Grass) ging im Nachkriegsdeutschland dauerhaft mit der Moral im neunten Monat schwanger; der andere (Fest) bedauerte immer und immer wieder den Abort des alten Bildungsbürgertums. Dabei wollen beide auf ihre unverwechselbare Art recht behalten.27 Einander treffend gehen ihre Biographien folglich, ohne zu zögern, wieder auseinander. Und so bleiben beide Individuen – die ihre Vergangenheit schreiben, um sich einen Kontext zu schreiben, in dem sie sich verorten, indem sie sich schreiben.

Anmerkungen

1 Edward Hallett Carr: What is History? Middlesex/Victoria (1961), S. 11.

2 V. a. die Bekenntnisse (1782–1786), Rousseau urteilt über Jean-Jacques (1780/1782), Träumereien eines einsamen Spaziergängers (1782).

3 Jean-Jacques Rousseau: Bekenntnisse. Übersetzt v. Ernst Hardt. Leipzig (1971), S. 900.

4 Walter Benjamin: Berliner Kindheit um neunzehnhundert. Frankfurt a. M. (2006).

5 Benjamin begann im Herbst 1932 die ersten Texte für seine Berliner Kindheit zu schreiben, 1938 überarbeitete er das Buch im französischen Exil ein letztes Mal.

6 Zu meiner Lesart: Die Siegessäule ist einerseits ein symbolischer Ort, der auf die Stadt Berlin verweist. Andererseits handelt es sich um ein herrschaftliches Zeichen, das für das Deutsche Kaiserreich und dessen politische und militärische Macht steht: Errichtet wurde sie anlässlich des Deutsch-Dänisches Krieges (1864), eingeweiht am Sedantag 1873, also an dem nationalen Feiertag, der an die entscheidende Schlacht im Deutsch-Französischen Krieg (1870–1871) am Vorabend der Reichsgründung erinnerte. Aus der rückblickenden Sicht Benjamins hat sich diese Säule verändert: Sie ist braungebacken – eine Farbenchiffre für die nationalsozialistische Herrschaft. Die unschuldigen, die süßen Kindheitserinnerungen (Winterzucker aus den Kindertagen) können allenfalls die Farbe verwischen. Die Form, die Macht, die die Säule repräsentiert, bleibt erhalten. Die Macht, für die die Säule steht, muss sich somit auch in den Erinnerungsfragmenten wiederfinden (zumindest durch sie hindurchscheinen), denn ihre Aufgabe ist es, eine Verbindung zwischen dem Jetzt (1932–1938) und dem Damals (um 1900) zu knüpfen.

7 Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: Ders.: Sprache und Geschichte: Philosophische Essays. Stuttgart (1992), S. 141–154; dieses Zitat Abschnitt XIV, S. 150.

8 Ebd. Abschnitt VI, S. 144.

9 Benjamin Kindheit, S. 61 (wie Fußnote 4).

10 Benjamin Geschichte, Abschnitt VI, S. 144 (wie Fußnote 7).

11 Vgl. das Phänomen der neuen Bürgerlichkeit, witzig und kritisch analysiert in Christian Rickens: Die neuen Spießer: Von der fatalen Sehnsucht nach einer überholten Gesellschaft. Berlin (2006); vgl. auch den Merkur-Sonderband Ein neues Deutschland? Zur Physiognomie der Berliner Republik. Hrsg. v. Karl Heinz Bohrer u. Kurt Scheel. Stuttgart (2006); bes. das zwar keineswegs bösartige, aber naive Lob des Patriotismus, das Matthias Matussek wieder einmal singt (S. 813–819), und die dementgegen differenzierte Betrachtung von Jörg Lau (S. 800–812).

12 Zitiert wird im Folgenden immer die Erstausgabe: Günter Grass: Beim Häuten der Zwiebel. Göttingen (2006).

13 In F.A.Z., Nr. 186 vom 12. August 2006, S. 33: Warum ich nach sechzig Jahren mein Schweigen breche.

14 Vgl. FAZ.NET: Debatte über Grass wird hitziger, vom 14. August 2006.

15 In der Berliner Morgenpost: Ahnungslose moralische Wichtigtuerei, vom 14. August 2006.

16 In der Stuttgarter Zeitung: Martin Walser unterstützt Günter Grass, vom 13. August 2006.

17 Eine Transkription der Rede Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede findet sich auf der Seite des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Die Zitate folgen dieser Transkription.

18 Im Falle anderer Interpretation liegt m. E. kein Miss-, sondern ein Fehlverständnis vor. Sätze wie Kein ernstzunehmender Mensch leugnet Auschwitz; kein noch zurechnungsfähiger Mensch deutelt an der Grauenhaftigkeit von Auschwitz herum, zeigen mehr als deutlich, dass Walser nun wahrlich kein Holocausleugner ist. (Wer lesen kann, der lese!) Dass Auschwitz immer wieder für aktuelle politische Zwecke herangezogen oder gar instrumentalisiert wird, scheint mir auch unbestritten. Diskutabel ist allein, ob man diese Instrumentalisierung derart vehement ablehnen muss, wie Walser es tut.

19 Ungewissheiten werden von Grass an vielen Stellen ausdrücklich thematisiert. Z. B.: Zwar meine ich noch immer die Striemen auf platzender Haut zu sehen, aber das könnte ein nachträglich gepinseltes Bild sein, weil Erlebnisse dieser Art, sobald sie sich zu Geschichten mausern, nun mal auf Eigenleben bestehen und gern mit Einzelheiten prahlen. (S. 194)

20 In Günter Grass: Ach Butt, dein Märchen geht böse aus. München (1996), S. 6–7.

21 In der Sendung Wickerts Bücher, ausgestrahlt in der ARD am 17. August 2006.

22 Zitiert wird im Folgenden immer die 2. Auflage der Erstausgabe: Joachim Fest: Ich nicht: Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend. 2. Auflage, Reinbek (2006).

23 Felicitas von Lovenberg sieht dies anders: Es fällt Joachim Fest nicht ein, seinen Vater zum Helden zu stilisieren (F.A.Z., Nr. 207 vom 6. September 2006, S. 39: Auch wenn alle mitmachen – ich nicht), aber m. E. falsch. Indem Johannes Fest konstant bei seiner Haltung bleibt und sein Sohn Joachim diese Standfestigkeit immer wieder hervorhebt; indem Joachim Fest diese Haltung mit der Form der Reaktionen der Mittäter kontrastiert (s. u.), erklärt er seinen Vater implizit zum Helden.

24 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung: Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M. (2003); dieses und die folgenden Zitate stammen alle aus der Vorrede (S. 1–7).

25 Fest deutet Akte der Selbstbezichtigung von Grass und anderen falsch, wenn er sie allein als eine Form der Selbstreingung, was sie natürlich auch sind, versteht. Denn die Selbstbezichtigung hat in einer Gesellschaft, die die eigenen Vergehen obstinat beschweigt, auch eine andere Funktion: die Funktion eine allgegenwärtige Ignoranz und Beschönigung der jüngsten Vergangenheit aufzubrechen. Wenn Günter Grass oder einer der ungezählten Selbstbezichtiger auf ihr Schamgefühl deuteten, wollten sie keineswegs auf irgendeine eigene Schuld verweisen, sondern auf die vielen Gründe, die alle anderen hatten, sich zu schämen, vereinfacht Fest. Zu ihrer und unser aller Schande, so meinten sie, fände sich die Masse dazu aber nicht bereit. Sie selbst fühlten sich bereits durch das Bekenntnis ihrer Scham von jeglichem Vorwurf frei. (S. 342)

26 S. 342–343: Hinter der Formulierung eine[r] der führenden Köpfe des Landes verbirgt sich Habermas, hinter ein ehedem Untergebener Hans-Ulrich Wehler.

27 Johann Michael Möller gesteht Fest zu viel Konzilianz zu, wenn er schreibt: Fests Erinnerung sind kein triumphierendes Buch, keines das Recht behalten will und Recht behalten hat. (Deutschlandradio Kultur: Die Wahrheit liegt auf dem Ölberg, vom 15. September 2006.) Dazu rückt Fest den Wertekanon des zugrunde gegangenen Bildungsbürgertums zu stark in den Vordergrund. Seine Verdammung der politischen Linken (s. o.) ist nur ein Baustein seines Willens, recht zu behalten.